Anlässlich der miserablen Frauenquote von „Rock am Ring“ kann konstatiert werden: Die Alte Musik ist weiter. Beim Regensburger Festival standen beinahe so viele Frauen wie Männer auf den Bühnen historischer Spielstädten. Zählt man die leitenden Positionen separat, so waren diese immerhin fast zur Hälfte mit Frauen besetzt.
Fangen wir deshalb einmal mit bemerkenswerten Konzertmeisterinnen an, mit der Geigerin Stéphanie de Failly zum Beispiel. Zusammen mit ihrem Ensemble Clematis servierte sie auf hohem Niveau Kuriositäten des 17. Jahrhunderts, darunter Carlo Farinas berühmtes „Capriccio stravagante“. Die eigentlich im Zentrum stehenden, eher unspektakulären Sonaten von David Pohle gingen demgegenüber und in der Nachbarschaft mit den klangmalerischen Köstlichkeiten Johann Jakob Walthers allerdings ein wenig unter.
Als unerschrockene Solistin präsentierte sich auch Olivia Schenkel, die gemeinsam mit dem (fast ausschließlich weiblich besetzten) orchester le phénix in Michel Correttes „Concerto comique“ brillierte und in einem weiteren Konzert des französischen Barockkomponisten dem Cembalisten und Ensembleleiter Vital Julian Frey die Stirn bot. Der führte in lockerem Tonfall auch ein wenig durchs Programm und bereitete das Publikum entsprechend auf die Cembalo-Effekte von Correttes Seeschlachtengemälde vor.
Louise Ayrton führt die Streichergruppe im Ensemble Jupiter an. Weil dessen Leiter, der Lautenist Thomas Dunford, sich leicht an der Hand verletzt hatte, übernahm sie kurzerhand und mit verblüffender Selbstverständlichkeit die Solopartien in den Ecksätzen von Vivaldis Konzert RV 93. Das schwindelerregende Niveau der Truppe bestätigte Cellist Bruno Philippe mit zwei hervorragend gestalteten Sätzen aus Bachs Solosuiten und einer zupackenden Version von Vivaldis Konzert RV 416. Dies alles wurde bei diesem Konzert aber noch übertroffen vom sensationellen Auftreten der Mezzosopranistin Lea Desandre in diversen Arien Vivaldis. Die vokale Finesse und kontrollierte Energie, mit der sie mal finsterste Rachearien in den Raum schleuderte, mal zarteste Empfindungen besang, spottete jeder Beschreibung. Besser ist bei den Tagen Alter Musik wohl kaum je gesungen worden.
Guckkasten-Händel und Solo-Bach
An Konzertmeisterin Lenka Torgersen orientierten sich vielfach auch die Mitglieder des Collegium Marianum, nachdem die Dirigentin und Flötistin Jana Semerádová eher mit der Koordination zur Bühne beschäftigt war. Das klappte in Georg Friedrich Händels Pastoraloper „Acis and Galatea“ dann auch problemlos, und so gelang zum Festivalfinale im Theater am Bismarckplatz eine hinreißende Aufführung, an der das Marionettentheater Buchty a loutky großen Anteil hatte.
Mit kindlicher, aber nie kindischer Spielfreude wird in dieser Koproduktion mit den Händel-Festspielen Halle der antike Stoff in einem kleinen Guckkasten-Triptychon zum Leben erweckt, das von leibhaftigen Sängern, Puppen und allerlei an Angeln hereinschwebenden Tieren bevölkert wird. Als buchstäblicher Running Gag machen sich immer wieder possierliche Schafe breit, bevor das Unglück in Gestalt einer riesigen, Pappsteine schleudernden Polyphem-Puppe seinen Lauf nimmt. Schöner als das von Helena Hozovás charmanter Galatea angeführte Ensemble, spritziger als das Collegium Marianum kann man das kaum singen und spielen.
Das anspruchsvollste Programm unter den Geigerinnen hatte Leila Schayegh zu bewältigen und hatte dabei außerdem mit der Tücke des Objekts zu kämpfen. Genauer gesagt, mit dem Aufeinandertreffen temperaturempfindlicher Violinsaiten mit empfindlich hohen Temperaturen im Reichssaal des Alten Rathauses („Mir ist warm, meiner E-Saite auch…“). Wie sie dieses Stimmungs-Problem meisterte und dennoch ein prägnantes Bild vom Repertoire für Solovioline bis einschließlich Bach zeichnete, war aller Ehren wert. Neben Nicola Matteis’ spontan an den Anfang gestelltem „Passaggio rotto“ hinterließen vor allem die Sarabande aus Johann Paul Westhoffs D-Dur-Partita und die über einem absteigenden Vierton-Motiv sich kraftvoll aufbauende Passacaglia von Heinrich Ignaz Franz Biber einen starken Eindruck. Bei Johann Georg Pisendel und seiner in den Mittelsätzen eher länglichen a-Moll-Sonate wurde die Luft in Sachen Intonation dann bisweilen schon arg dünn. Um so bewundernswerter, wie die Schweizer Geigerin für Bachs d-Moll-Partita noch einmal Kraft schöpfte und mit der überlebensgroßen Chaconne den Widrigkeiten mutig trotzte.
Gesang, Posaune, Zink
Für ein wenig weibliche Präsenz in Sachen Komposition sorgte immerhin das Ensemble I Gemelli. Gut aufgehoben bei deren Auftritt war allerdings nur, wer Lust auf eine sakrotheatrale Shownummer mit Startenor hatte, denn Emiliano Gonzalez Toro machte aus den zu einer Marienvesper zusammengestellten Psalmen und Motetten der Äbtissin Chiara Margarita Cozzolani (Mitte 17. Jh.) ein unterhaltsames, in extremen Tempowechseln von Zeitlupe und Zeitraffer aber auch leicht aufdringliches Spektakel. Das Handkanten-Dirigat, das der beachtliche Sänger aus der Mitte der Gruppe heraus zelebrierte, wirkte bei den von Zinken und Posaunen gekrönten Schlusswendungen so, als müsse er eine symphonische Choralapotheose im Geiste Anton Bruckners herbeiführen. Fragwürdig war auch die Tatsache, dass die zu Cozzolanis Lebzeiten im Kloster wahrscheinlich rein weibliche Aufführungspraxis nur im Programmheft präsent war und Gonzalez Toro sich sogar bei ursprünglich für zwei Soprane komponierten Duetten kurzerhand einen Solopart unter den tenoralen Nagel riss.
Erholung von diesem etwas befremdlichen Zugriff bot La Guilde des Mercenaires mit ähnlichem Repertoire. Der überragende Zinkenist Adrien Mabire glänzte wie gewohnt in instrumentalen Zwischenspielen, war ansonsten aber als Dirigent in frühen Werken Giovanni Gabrielis gefordert. Abwechslung brachten immer neue Stimmkonstellationen, die durch veränderte Aufstellung der Sänger optisch und akustisch markiert wurden. Ihr Gesang und das Spiel der Bläser verschmolzen zu einer Klangfarbenpracht, die mehr war als die Summe ihrer Teile.
Weiteres hochkarätiges Futter für Fans der Kombination von Gesang mit Posaune und Zink steuerten Les Meslanges (Leiter Volny Hostiou ließ den Serpent herrlich brummen) mit französischer Sakralmusik des 17. Jahrhunderts und Alamire bei, die bei der Musik von Hieronymus Praetorius von den bewährten Kräften von His Majestys Sagbutts & Cornetts unterstützt wurden. Klassische Kirchenmusik war beim Eröffnungskonzert der Regensburger Domspatzen geboten, die unter der Leitung des – was öffentliche Auftritte angeht immer noch neuen – Domkapellmeisters Christian Heiß ein unspektakuläres Programm (Mozarts „Große Credomesse“ und „Vespera solennes de confessore“) unspektakulär meisterten.
A-cappella-Renaissance
Ein Hochamt in Sachen Renaissance-Polyphonie zelebrierten die Tallis Scholars. Seit seiner Gründung, vor allem seit ersten bahnbrechenden Aufnahmen in den 1980er Jahren, gilt der Chor als Referenz, wenn es um Ebenmäßigkeit und Klarheit der Stimmführung in diesem Repertoire geht. Ihr Auftritt bei den Tagen Alter Musik 1993 ist vielen noch in ehrfürchtiger Erinnerung. Der Einstieg in ihr Programm mit John Taverners „Leroy Kyrie“ schien genau da anzuknüpfen. Die zehn Stimmen verströmten sich fast unwirklich im Kirchenschiff und schufen doch eine kraftvolle Präsenz. Mit Thomas Tallis’ „Suscipe quaeso Domine“ tauchten dann kleinste, auf diesem Niveau aber leider merkliche Intonationstrübungen in hohen Sopranpassagen auf. Hinzu kam, dass Dirigent Peter Phillips für den Mittelteil des Programms mit Ausschnitten aus einer Messe William Byrds Werke gewählt hatte, deren Deklamationstempo in der Riesenakustik des Regensburger Doms harmonisch doch erheblich verunklart wurde. Wunderbar gelangen aber Robert Whites „Exaudiat te“ und mit „Ave verum“ und „Tribue domine“ weitere Byrd-Stücke.
Noch mehr Luft nach oben war bei Blue Heron. Dem Vokalensemble gelang es nur bedingt, eine Lanze für Cipriano de Rores fünfstimmiges Madrigalbuch von 1542 zu brechen. Immer wieder trübten Intonationsschwankungen und die unklare Balance zwischen individuellem Heraustreten einzelner Stimmen und Homogenität den Gesamteindruck. Eine gute Idee war es wiederum, dass Katja Schild vor jeder Nummer die zugrunde liegenden Texte in deutscher Übersetzung rezitierte.
Einen nicht nur äußerlich geschlossenen Eindruck hinterließen dagegen die Cupertinos. Einander in einem Kreis zugewandt sangen sie die bemerkenswerte Musik des portugiesischen Renaissance-Meisters Manuel Cardoso. Herausragendes Merkmal des Vokalensembles ist das Timbre der Frauenstimmen, das den Oberstimmen ohne jede Schärfe eine sehr spezielle Präsenz verleiht, ohne das die Balance zu den weniger individuellen Männerstimmen gefährdet wäre.
Wie gesagt: Die Alte Musik ist weiter…