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„Missa Nigra“. Foto: Roland H. Dippel

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Freie Musiktheater-Kräfte bündeln sich: Das Tracks-Festival in Leipzig

Vorspann / Teaser

Schon einige Stunden nach den beiden Tracks-Tagen im Leipziger Kulturzentrum Werk 2 und Cammerspiele ist das bedenkenswerte Event von dessen Website abgeräumt. Das von der Initiative für Freies Musiktheater Leipzig realisierte Festival am 24. und 25. September war allerdings überfällig als Kommunikationsbörse, Ideenbringer und Anstoß für zukünftige Synergien. Diese Initiative ist in der Musikstadt Leipzig äußerst wichtig. Denn Neues Musiktheater – und das ist Freies Musiktheater zumeist – gibt es an der Oper Leipzig weitaus seltener als an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in deren Musiktheater-Studioproduktionen und vom spartenübergreifend agierenden Zentrum für Gegenwartsmusik.

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Aller Anfang ist schwer, aber viele kamen zusammen: Kollektive wie Not Yet Confirmed, Roter Mond Ensemble, Schatz & Schande, Leipzig Underground Opera und Einzelkämpfende wie Franziska Hiller. Sie brachten sich untereinander ins Gespräch, machten Gäste von der Oper Leipzig, erfolgreichen Parallelplattformen und vom MDR auf sich aufmerksam, wollten sich gemeinsam für Performance und Publikum stärken: Betreffend Anträge auf höhere Förderung, Netzwerk-Initiativen und eventuell Kooperationen mit den Leipziger Musikriesen. Man zeigte eine beachtlich breite Palette heutigen Performens und Entwickelns – spartenübergreifend, partizipativ, offen. Neben Kurzperfomances gab es einen öffentlichen Workshop mit Gästen und Ergebnis-Präsentationen. Über die im Grunde von allen befürwortete Fortsetzung des Tracks-Festivals kam es betreffend Zeitabstand und Inhaltlichkeit zu keinem klaren Fazit, aber einstimmigen Zuspruch für dessen geglücktem Stapellauf. 

Drei geschlossene Beiträge standen für Paradigmen des gegenwärtigen Musiktheaters. Der bereits an den Landesbühnen Sachsen mit Übersetzung einer Kammerfassung von Antonín Dvořáks „Rusalka“ in deutsche Gebärdensprache erfolgreiche Regisseur Jeffrey Döring überschrieb Béla Bartóks Oper „(Herzog) Blaubarts Burg“ auf beeindruckende Weise. Aus den von Elisabeth Schiller-Witzmann als sieben Holzkästen dargestellten Kammern, die in der Oper für psychische Seinsnischen von Blaubart stehen, drangen in der mutigen wie bewegenden Umgestaltung Stimmen: Sprachaufnahmen aus Dörings Recherchen über Einsamkeit im Alter, aber auch bereits jüngeren Jahren. Recherchen über Einsamkeit als soziales Phänomen von 8 Millionen Betroffenen allein in Deutschland und auch das individuelle Recht auf Vereinsamung oder Verwahrlosung. Im sehr geschickten Kammerarrangement von Stephan Goldbach unter Yury Ilinovs musikalischer Leitung fehlte es noch an Feinarbeit in Halle D. Das Projekt versteht sich als Work in Progress, dessen ‚eigentliche‘ Vorstellungen am Wochenende 27./29.09. im Leipziger ZiMMT stattfinden werden. Ein Mitschnitt der Präsentation im Wissenschaftskolleg zu Berlin findet sich auf YouTube. Die Sopranistin Madeline Cain und der Bariton Joshua Morris boten neben den dokumentarischen Sprachaufnahmen eine eindringliche Leistung von Bartóks quälendem und selbstzerfleischendem Beziehungsdrama. In diesem wird die Frau Judith als eigentlich untotes Opfer und Teil von Blaubarts Vergangenheit entsorgt, bevor ihr Liebesglück richtig begonnen hat. Leichten Wirkungsverlust erlitt der spannende Ansatz, weil das Team seinem Konzeptkern durch einen redundanten Epilog nochmals Nachdruck verleihen wollte. Dörings ambitionierte Produktion legt also weitaus mehr Gewicht auf das Anliegen als auf die Umsetzung von Bartóks Partitur. 

„LICHT.24“ ist ein interaktives Projekt, welche das einzeln getrackte Publikum zum Folgen, Verfolgen, Sich-verfolgen-lassen von Licht umrandeten Formen am Boden einlädt. Alle sind in Bewegung, sogar der von der Sängerin durch den dunklen Raum geschobene Konzertflügel. Ilka Seifert und Anja-Christin Winkler setzen ihren an verschiedenen Kulturorten Leipzigs stattfindenden Licht-Zyklus mit technischer Verspieltheit, Improvisation, Neuer Musik und Interaktionen des Publikums fort. 

Fast zum Schluss gab es am Mittwochabend das Versprechen einer Leipziger und überregionalen Sensation. Damian Ibn Salem brachte mit einem textlich wie dramatisch intensiv gefordertem Instrumentalseptett Friedrich Schenkers „Missa Nigra“ zur sensationellen Aufführung. Diese – so Dramaturgin Katrin Stöck zum 1978 entstandenen und 1979 im Alten Rathaus Leipzig uraufgeführten Stück – „ist eines der Hauptwerke Szenischer Kammermusik oder des Instrumentalen Theaters der DDR“. Neben dem von Philipp Lossau trickreich aus dem authentischen Motivschatz des Kalten Krieges entwickelten Videomaterial brachte das Ensemble die lautstark plärrige und dabei lustvolle Realisation der wilden Partitur auf die Textcollage von Frank Schneider. Auf die Vorstellungen in der Leipziger Kulturnhalle am 8. und 9. November kann sich man nur freuen. 

Fragmentarische Nabelschau, spannende Leistungen und ein optimistischer Kick ergaben sich in diesen beiden Tagen fast synchron. Genauso wichtig wie das Erlebte und Projektierte ist die Neugier auf die Zukunft nach dem (ersten) Tracks-Festival. Die Leipziger Musiktheater-Szene kann mehrere der erlebten Performance-Farbtupfer und Kreativsplitter nur zu gut gebrauchen.

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