Wie Geister in einem archaischen Initiationsritual beschworen die australischen „Snuff Puppets“ beim Presseempfang den neuen künstlerischen Leiter des Moers-Festivals Tim Isfort. Auf dass der gebürtige Moerser seine Sache gut mache! Der dritte Festival-Leiter in der Folge von Burkhard Hennen und Reiner Michalke liebt das Theater. „Moers 3.0“ will viel neue Farbe auftragen – davon zeugte die 46. Festivalausgabe.
Tim Isfort spricht von neuen musikalischen Entdeckungspfaden und gab sich selbstbewusst bei der Realisierung dieses Plans: Die belgische Hardcore-Punkband „Cocaine Piss“ schleuderte ihre Soundbretter ohne Vorwarnung ins Publikum. Musik soll nicht einfach nur „schön“ sein oder Expertendiskurse nähren, sondern auch mal körperliche Grenzerfahrungen produzieren. Was sonst waren die fast dreistündigen, überlaut-psychedelischen, oft von zähfließenden, nie aufgelösten Mollakkorden gespeisten Gitarrenkaskaden der US-Band „The Swans“! Die ergreifendsten, sensibelsten Momente realisierte hingegen ein Singer/Songwriter aus Kalifornien: Dorian Wood berührte tief mit seinem androgynen Gesang und seinem exzentrischen Charisma – sowohl in einem nächtlichen Kirchenkonzert (einem der vielen neuen „Nebenschauplätze dieses Festivals) wie auch auf der Hauptbühne zusammen mit den feinnervigen Streicherteppichen des Ensembles Crush. Auch das eine intime Sternstunde!
In Zeiten knapper Budgets braucht es keine Materialschlachten mit großen Namen. Sensible Kenner der Materie wie zum Beispiel Jan Klare holen interessante Menschen und deren spannende Projekte hier her. Im Fokus stand aktuell Flandern, wo sich eine kleine Szene unangepasst gebärdet. So überwältigte der tief geerdete Blues der Band „Rubatong“ aus den Niederlanden. Und das belgische Trio „De Beeren Gieren“ hatte mit seiner herrlich freigeistigen Improvisationsmusik ohnehin schon einen Höhepunkt kurz nach dem Festivalstart herbeigeführt.
Silhouette in einem genreübergreifenden „Koordinatensystem“
Jazz ist für die neuen Festival-Macher weiterhin Silhouette in einem genreübergreifenden „Koordinatensystem“. Wenn Jazz in Moers mal hervortritt, strebt er sofort wieder betont freiheitsliebend aus der Schublade mit den vier Buchstaben heraus. Geradezu bedrängend auf den Moment fokussiert, eroberte eine kongeniale Triobesetzung ihr Publikum: Sylvie Courvoisier verschaltete ihre energetische, funkelnde Pianistik mit den heißen Saxofonströmen von Evan Parker und Ikue Moris Computer-Soundscapes. Zum zehnten Mal gab sich Saxofonist Anthony Braxton die Ehre. Kolossal, fein verästelt und detailverliebt zelebrierte sein Großensemble zusammen mit Ingrid Laubrock ein fein gewebtes, aber manchmal auch etwas hermetisch um sich selber kreisendes Ideengeflecht. Noch einmal Ingrid Laubrock: Sie und ein internationales Riesenorchester präsentierte ihre beiden Kompositionen Vogelfrei und Chaos Practices. Diese spektrale, hochkomplexe, zwischen Streicherfarben und Bläser-Expressivität spannungsreich interagierende Tonsprache hatte im Fall des neuen Werkes wieder etwas Symbolträchtiges: So standen Überlegungen zum Chaos im US-Wahlkampf für dieses improvisiert-sinfonische Werk Pate.
Hunger nach Freiheit – Leidenschaft für Musik
Tim Isfort hat als aufgeschlossener Reisender die Kulturen der Welt im Blick. Gerade in Ländern mit schlimmer Vergangenheit durch Diktatur und Bürgerkriege, kennt der Hunger nach Freiheit und damit die Leidenschaft für Musik kaum Grenzen. So etwas soll in Moers erfahrbar werden. Aber dafür mussten erst mal Grenzen überwunden werden, was angesichts behördlicher Sturheiten bei der Visa-Erteilung für die kongolesischen Musiker von Radio Kinshasa nicht ganz einfach war. Aber sie kamen dennoch – und schworen sich unter Mitwirkung des Berliner Schlagwerkers FM Einheit und zusammen mit dem australischen Figurentheater Snuff Puppets auf einen gemeinsamen, eindringlichen Puls sein.
Braucht die Stadt Moers dieses Festival? Diese Frage wird in der Kleinstadt am Niederrhein mit ihren internationalen Pfingstfestspielen der freien Musikkultur rauf- und runter diskutiert. Also kam dieses gewichtige Thema bei der 46. Festivalausgabe auch zur Primetime auf die Hauptbühne! Die Teilnehmer des Podiums: Vier führende Köpfe aus der Avantgarde- und Lautpoeten-Szene – nämlich David Moss, Jaap Blonk, Kim José Bode und Catherine Jauniaux. „Eine Stadt braucht Menschen, und vor allem die Kreativität von Menschen“. Soviel war noch verbal verstehbar. Danach verwirbelten die Teilnehmer in bester Dada-Manier skurrille Grimassen, dekonstruierten Wortschnipsel, Trommel-Lärm und Blockflötenfiepser zur schräg-virtuosen „Kollektiv-Ursonate“.
„Jetzt sind Sie alle schlauer in dieser Frage!“ schloss der Festivalleiter Tim Isfort die ewige Debatte danach ein für alle mal ab.