Ganz alleine steht Lakmé auf dem Handkarren. Die gottgeweihte Tochter des indischen Priesters Nilakantha, der mit ihrem Gesang auf dem Marktplatz ihren englischen Verehrer Gérald anlocken will, erzählt in der bekannten Glöckchenarie „Où va la jeune Hindoue“ von einem Hindu-Mädchen, das einem Wanderer mit Zauberglöckchen vor wilden Tieren schützt. Diese Gesangsnummer gehört zum Spektakulärsten, was Sopranistinnen im Opernrepertoire zu singen haben.
Fülle der Vielschichtigkeit – Léo Delibes’ Oper „Lakmé“ an der Opéra national du Rhin Straßburg
Sabine Devieilhe macht aus der bis zum dreigestrichenen E reichenden Arie aber keine Zirkusnummer, sondern zeigt mit ihrem kristallinen, schlackenlosen Sopran die Reinheit und Fragilität dieser unterdrückten Frau. Es sind gerade die leisen, perfekt intonierten Töne, die berühren. Ihre Koloraturen imitieren das Glockenspiel perfekt und umgekehrt. Die Geschichte dazu wird hinter ihr im Schattentheater erzählt.
Léo Delibes’ 1883 uraufgeführte Oper „Lakmé“ kennt man heute nur noch von dieser Arie und dem noch bekannteren Blumenduett „Sous le dome épais“, in der sich in Straßburg Devieilhes glockenheller Sopran perfekt mit dem warmen Mezzo von Ambroisine Bré als Dienerin Mallika mischt. Die gesamte Oper ist ausgesprochen selten auf der Bühne zu erleben. Ein Fehler, wie die rundum gelungene Koproduktion der Opéra national du Rhin mit der Oper Nizza in der Originalfassung mit gesprochenen Dialogen zeigt. Schon die vielschichtige, mit orientalischen Floskeln verzierte Ouvertüre beweist die Eleganz und den Reichtum dieser Musik. Guillaume Tourniaire sorgt am Dirigentenpult für eine gute Balance und geschmackvolle Rubati. Die Farbmischungen der Holzbläser sind delikat.
Regisseur Laurent Pelly hat für die zwischen Orientalismus und Kolonialkriegen angesiedelte Geschichte eine ästhetische Bildsprache gewählt (Ausstattung: Camille Dugas), die mit Elementen des traditionellen asiatischen Theaters arbeitet wie papiernen Kulissen. Stilisierung statt Realismus. Das Bambushaus, in dem sich die mit weißen Gewändern und aufwändigem Kopfschmuck geschmückte Lakmé zu Beginn befindet, erinnert an einen Käfig. Erst nach und nach wird sie von ihren Dienern und schwarzgewandeten Statisten entkleidet und auf diese Weise vermenschlicht. Im schlichten weißen Wickelkleid begegnet sie dem englischen Offizier Gérald, der von ihrem Gesang und ihrer Schönheit fasziniert ist. Julien Behr verleiht der Figur mit seinem leicht nasalen, hohen Tenor schwärmerische Jugendlichkeit. Dass er mit Miss Ellen (Lauranne Oliva) bereits verlobt ist, spielt keine Rolle im weiteren Handlungsverlauf.
Im von Tänzen und der ausgestellten, durch eine lange Pause abgesetzte Glöckchen-Arie geprägten zweiten Akt, an dessen Ende Gérald von Nilakantha (präsent: Nicolas Courjal) niedergestochen wird, ist die orientalische Färbung der Oper durch Instrumentation und Melodik am Stärksten ausgeprägt. Der Chor der Rheinoper (Leitung: Hendrik Haas) und das Symphonische Orchester Mulhouse gefallen durch Transparenz und Farbenreichtum. Im letzten Akt ist Gérald auf den Lotusblüten gebettet, die zu Beginn den Boden des Bambushauses bedeckten. Der Kreis schließt sich. Aber nicht für Lakmé. Sie hört die Militärmusik aus der Ferne. Und spürt, dass sich Gérald, den sie geheilt hat, doch nicht auf sie einlassen wird. Ein letztes Mal lässt Sabine Devieilhe ihre Stimme im Piano silbrig leuchten. Dann stirbt diese berührende Lakmé an dem Gift, das sie genommen hat.
- Weitere Vorstellungen bis 28. November in Straßburg und Mulhouse: www.operanationaldurhin.eu
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