Das beste Argument für die Zukunftssicherung eines Festivals der Neuen Musik ist die funktionierende, vernetzte und nach innen wie außen strahlende Gegenwart. Natürlich beteiligt sich das IMPULS-Festival Sachsen Anhalt an der Petition des Forum Musik Festivals zur Bewältigung der Krise und Zukunftssicherung in und post coronam. Bei dem Orte von Halberstadt bis Halle ansteuernden Flächen-Festival, dessen Meisterkursen für Komposition und Dirigieren, Konzerten mit Kulturorchestern des Landes und Sprüngen nach Berlin oder Leipzig kann man den Überblick verlieren. In den experimentierfreudigen und genreübergreifenden Programmen gab es früher manchmal auch lange Abende. Aber dieser erste IMPULS-Höhepunkt im Steintor-Varieté Halle hatte es in sich, weil Musik und Performativität über Theorien siegten: Drei deutsche Erst- und zwei Uraufführungen mit satten Farben und Sinnlichkeit!
Dieser Abend macht Neugier und Lust auf die folgenden Wochen des am 14. September begonnenen und am 20. November endenden IMPULS-Festivals. Leiter Hans Rotman setzte jetzt unter den Anspruch internationaler Vielfalt und über den landesweiten Flächenfestival-Baukasten eine Kuppel: Das Netzwerk Festival Alliance of Contemporary Music in Europe (F.A.C.E.). Weder die Fachwelt noch interessierte Hörerschaften sollen in Zukunft bedeutende Ereignisse der Neuen Musik verpassen oder von ihnen erst nach deren Verklingen erfahren. Die Veranstalter produzieren und schicken Interpreten mitsamt den raumgreifenden Instrumentarien zu den Partnern. So haben alle mehr davon: Musiker eine höhere Vorstellungszahl nach der aufwändigen Probenzeit, eine größere Öffentlichkeitswirkung, mehr Diskussions- und Reibungsflächen und dazu vielleicht sogar ein etwas höheres, verdientes Einkommen.
Das klingt nach Konzeption mit artistischer Schüttelbox, wächst aber im Steintor-Variéte Halle zum äußerst beeindruckenden Konzert-Ganzen zusammen. Zu einem kleinen Teil liegt es an den Farbstrahlen auf Stühle und Tische um die Konzert-Fläche: Sicher ist es zum Teil Zufall, was an Werken und Interpreten aneinandergerät. Dennoch hat das zweieinhalbstündige Programm einen definitiv hohen Sättigungsgehalt für Geist, Nerven und Sinne. Keines der fünf Werke bot Anlass für verstohlene Blicke auf die Uhr. Es ergaben sich formale und ästhetische Stränge vom instrumentalen Beginn zum zunehmend vokalen Ende. In mehr als einem Stück wurde der singende, musizierende Körper wie der von Salome Kammer unterm selbstgemachten Muschel-Poncho zum Instrument, der die Partitur sinnvoll bereicherte und nicht nur einer Effekt-Choreographie diente. Hans Rotman versprach „viel artifizielle Musik“. Dann machten Elektronik, klangliche Ver- und Zweckentfremdungen tatsächlich tieferen Sinn. Dieser Abend wurde zum plausiblen Argument für physische Konzertereignisse: Kein elektronisch-digitales Endgerät reproduziert Klangmixturen, Zungenakrobatik und akustische Raumwanderungen mit derartiger Eindrücklichkeit wir hier erlebt. Dieser starke Abend rückt die qualitative Messlatte für den weiteren Festival-Verlauf in fast beängstigende Höhe. Der MDR zeichnete die fünf Stücke auf:
1) „W.A.L.L.“ (Deutsche Erstaufführung) von Aart Strootman mit Slagwerk Den Haag (Gaudeamus Muziekweek, Utrecht, Niederlanden)
Die wie eine Mauer aufragende und eigens gebaute Marimba, deren Platten Ziegeln in einer Mauer ähneln, wäre ein eindrucksvolles Bühnenbild. Die Spieler sitzen mit dem Rücken zum Publikum, die Gitarristen fallen langsam in den rhythmischen Sog von einer kurzweiligen halben Stunde. Klangfarben aus anarchischen Farben der Neuen Deutschen Welle, von Electro und DJ-Atmosphären aus Techno-Clubs ziehen vorbei wie Nebel. Gerade in dem Moment, in dem man neoklassisches Arrangement mutmaßt, ist Strootmans lange Exposition vorbei. Es entsteht Eigenes aus sich emanzipierenden Klangkulturen, die wie Pilzköpfe auf kühlen Böden sitzen. Sporen fliegen aus asymmetrischen Ballungen von Harmonie: Rausch ohne Betäubungshinterhalt – toll!
2) Bad Boys (Deutsche Erstaufführung) – Werke von Michael Beil, Stefan Prins, Kevin Volans, Mario Pagliarani (Chigiana Interational Festival & Summer Academy, Siena, Italien) mit Manuel Zurria (Flöte), Stephane Ginsburgh (Klavier) und Thomas Cancellieri (Ton/Video)
Eine Zitterpartie für den Ton-Ingenieur. Dieses Stück schmeißt und reiht alle denkbaren Arten der Tonproduktion, etüdenhaft und quietschlustig. Am Anfang ist „Bad Boys“ mehr Kreidler als Gaga. Da sieht man im Video den Pianisten am Flügel, hört aber Synthesizer. Die Fragen nach dem, was kon- oder disfundiert werden soll, zerstreuen sich an der artistischen Umtriebigkeit. Keinen Wettbewerb gibt es zwischen Italo-Schlager und Föten-Virtuosität. Der Flötist Manuel Zurria nickt, dreht, bückt sich. Er macht, was sich in den nächsten Stücken fortsetzen wird, seine Bewegungen zur eigenen, wichtigen Stimme der Partitur. Dem Komponisten-Kollektiv ist es Ernst mit dem Teilen. Aber sie meinen mit Teilen weniger den Druck der digitalen Welt, wo jede Silbe ihren Weg ins Netz finden sollte, sondern die fröhliche Aufforderung einer erfolgreichen Lakritz-Fabrik.
3) „Bukkake“ for voice, percussion, piano and cello (Deutsche Erstaufführung) von Sarah Wéry (Ars Musica, International Contemporary Music Festival, Brussels, Belgien) mit Salome Kammer (Mezzosopran), Mathias Lachenmayr (Schlagzeug), Katerina Giannitsioti (Violoncello) und Marco Ricelli (Klavier), der/gelbe/klang München
Elektronik ist in jedem Stück dabei und wird doch nicht zur Last an der Lust. Das spricht für die Substanz der Komposition. Sarah Wéry ist äußerst bescheiden gegenüber ihren Ton-Erfindungen, die wie dünne Schleier durch den Raum wandern und wie impressionistische Wellen züngeln. Das wird zur Manifestation von Zärtlichkeit hinter physischer und von der Vertonung ignorierter Rammel-Motorik. Salome Kammer macht kein Vokalakt-Agitationsdrama aus dem Text, sondern klar ausschwingendes Melodram. Dieses Opus lockt zu Anteilnahme und Achtsamkeit. Auch hier sind Interpreten-Körper instrumentale Stimmen.
4) In Steps (Uraufführung) von Ricardo Eizirik (Eclat Festival für Neue Musik Stuttgart) mit Neue Vocalsolisten Stuttgart
Eine Antwort auf Kurt Joos' Bürokraten-Ballett „Der grüne Tisch“ inklusive gemorsten Lichtstrahlen in Rot. In diesem theatralen Opus mit Dirigent sitzen die Vokalsolisten an einzelnen Tischen, wo sie ein Chef am Mischpult-Gängelband hält. Das Madrigal-Opus der Generation Elektro wird erstaunlicherweise zum neutralsten Stück des Abends. Man hört Mixturen aus Voices und akustischen Environments, die Intermezzi zwischen den ‚Sätzen‘ bremsen dramatische Verdichtung aus. Dieses sterile Vokaltheater endet im gerade noch richtigen Moment vor dem Absturz in Monotonie. Ricardo Elzirik emanzipiert Grau- und Anthrazit-Töne neben dem Farbgemisch der anderen Werke.
5) Void (Uraufführung) von Carolina Eyck (Impuls, Festival für Neue Musik Sachsen-Anhalt) – Auftragskomposition mit Carolina Eyck (Theremin) und Neue Vocalsolisten Stuttgart
Hier wird das Festival-Motto „Enter The Void“ (Betritt die Leere) zum musikalischen und performativen Ereignis. Die Komponistin schwingt als Priesterin des Theremins wie Bambus im Wind. Gesten und Handhaltungen evozieren Klänge von sanfter Wehmut - ein Gemisch aus Vokalisen und räumlichen Achterkurven von Tönen in schmeichelnder Mehrstimmigkeit. Die Mischung von Klängen und Körpern mündet in ein lauteres Finale. Die Affirmation ist und bleibt nachdrücklich.