Bayreuth 2022: Vom 7. bis 18. September wurde in der Festspielstadt unter der künstlerischen Leitung von Max Emanuel Cencic das seit 2020 bestehende zweite Standbein ausgerichtet: das Bayreuth Baroque Opera Festival. Aus dem Erfolg der beiden vorangegangenen Jahre schöpfend, bot auch die dritte Ausgabe des Festivals ein reichhaltiges Programm auf. Den Höhepunkt bildete dabei die Aufführung des seit 1740 verstummten Dramma per musica „Alessandro nell’Indie“ des neapolitanischen Komponisten Leonardo Vinci.
Dem vorauseilenden Ruf Bayreuths folgend und mit Freude auf eine weitere aus der Versenkung gerettete Barockoper geht es am 11. September zur dritten und letzten Vorführung des Werks im Markgräflichen Opernhaus. Einen herrlichen Blick auf die Bühne kann man durch die hohen Brüstungen und Stützbalken der hölzernen Ränge erhaschen. Es ist mühsam, aber lohnt sich. Der hinreißende Theaterbau bietet den passenden architektonischen Rahmen für ein prachtvolles Bühnenbild: reich verzierte Holztäfelungen im Stil der Mogularchitektur und bezauberndes Licht, mit dem der Chef des Bühnenbilds, Domenico Franchi, in fremde Märchenwelten führt. Ebenso virtuos gestaltet sind die Kleider mit ihren „seltenen“ Perlen und den glitzernden Edelsteinen nach Entwürfen von Kostümdesigner Giuseppe Palella. Man ist sich zwar der oberflächlichen Strahlkraft bewusst, aber es ist hinreißend, wie sich dieses Gesamtkunstwerk an Eindrücken von Farben und Licht mit dem hölzernen Geruch des Theaters zu einer indischen Traumwelt vermischen. Doch scheint ferner etwas in der Luft zu liegen, das den (un)aufgeklärten Opernbesucher wundern könnte. Später dazu mehr.
In das Werk führen zwei barock gekleidete Herren, um nicht zu sagen karikierende Tunten. Sie nutzen die instrumentale Sinfonia und leiten den Zuschauer währenddessen in die sparsam in historische Tatsachen gerahmte Handlung ein, die, wie nicht selten bei barocken Bühnenwerken, in ihrer Verworrenheit eher nicht überzeugt: Makedonenkönig Alessandro schlägt den indischen König Poro am Hydaspes. Die aus der Niederlage entstehenden Wirren aus Selbstmordversuchen Poros, der missglückten Täuschung Alessandros durch Poros General Gandarte, eine versuchte Heirat zwischen Poros Ehefrau Cleofide mit Alessandro sowie unzählige Liebes- und Eifersuchtsbeziehungen münden – Deus ex machina sei gedankt – im glücklichen Ausgang der Oper inklusive der Rückgabe von Ehefrau und Herrschaftsgebiet.
Doch es geht hier um die Musik. Die ist bei Vinci ebenso reich an Ausdrucksformen wie Bühnenbild und Kostüm. Hervorragend geführt von Violinistin Martyna Pastuszka, lässt das {oh!} Orkiestra Schlachtenlärm in Form von Pauken und Trompeten, an den Charakter der jeweiligen Rolle angepasste Rezitative und Raga-Musik imitierende Lauten erklingen. Über diesem Effektfeuerwerk stehen die vielen in kunstvollstem Manierismus verfassten Arien und Duette. Nicht wenige Möglichkeiten bekommen die Solisten zum Glänzen geboten, die in diesem Festival zu einer Ausnahmebesetzung zusammengestellt wurden. Neben Countertenor Franco Fagioli, der die heldenhaft hohe Partie des Poro – so viel historische Aufführungspraxis muss sein – singt, glänzt Maayan Licht, ebenfalls Countertenor, als Alexander der Große nach allen Maßstäben der Kunst. Was ist aber mit den weiblichen Protagonisten? Die Lektüre der Besetzungsliste verrät, Cleofide (Bruno de Sá) und Erissena (Jake Arditti) werden auch von Countertenören gesungen. Skandal! Gerade in der heutigen Zeit, in der wir doch so ambitioniert um paritätische Verhältnisse ringen.
Jetzt wird dem Zuschauer auch erst der Clou dieser Aufführung bewusst. Die schön gewandeten Tänzerinnen, von deren verführerischem Orientalismus man sich hat verzaubern lassen, sind alle Männer mit viel Schminke, Perücke und falschem Dekolleté. Und was die Tänzer tanzen: Bollywood-Einlagen in verschiedensten Ausführungen. Technisch gut, aber stellt man sich hier nicht die Frage nach kultureller Aneignung? Diese kann auch dadurch nicht beschwichtigt werden, dass Sumon Rudra als indischer Choreograph und Bollywood-Spezialist eine legitimierende Bindung hat, denn über der gesamten Oper schwebt der Fluch des Kolonialismus. Indien als Austragungsort europäischer Eroberungsfantasien. Undenkbar.
Im Ernst. Dass Barockopern als Spiegel einer aufgeschlossenen Gesellschaft nach heutigen Maßstäben eher ungeeignet sind, ist offensichtlich. Das muss und soll auch nicht verhandelt werden. Vielmehr ist die Frage, wie sich eine mehr als vierstündige Oper von gleichartigen Werken unterscheiden kann und den Zuschauer nicht langweilt. Genau das schafft Cencic durch die große Farbpalette des orientalistischen Dekors, der Kostüme, des entgegen jeglicher Intention der Originalfassung Vincis frei hinzugefügten Tanzes und der durch höchste schauspielerische Leistung ermöglichten Ironie. Bewusst stolpert man in jedes nur denkbare Fettnäpfchen und überspielt die heutigen Absurditäten von „Wokeness“ und Identitätspolitik. Mag für manche das Ausmaß an burlesken Attitüden und Oberflächlichkeiten groß sein, nur so wird aus einer starren Folge von Rezitativen, Arien und Duetten ein unterhaltsames barockes Spektakel.
Faszinierenderweise liegt in der Handlung mehr Bedeutung als man in seinem plakativen wie komplex verknüpften Gerüst vermutet. Sehr stark präsentieren sich in diesem Stück die weiblichen Rollen. Cleofide als Königin verhandelt eigenständig mit Alessandro; Erissena ist Ratgeberin in entscheidenden Momenten. Dagegen stehen die schwachen Figuren des ständig von Eifersucht geplagten Poro, der zunächst seiner Misere mit Selbstmord entfliehen will, diesen später aus Willensschwäche nicht durchführen kann, ein eher verweichlichter und viel verzeihender Feldherr Alessandro und Timagene, ein Triebtäter auf offener Bühne. Alle leiden sie unter schreckhafter Hysterie, denn oft führt das plötzliche Auftauchen einer Figur zu weibischem Kreischen. Die Verhältnisse sind umgekehrt: Männer müssen ran um so viel „Frauenpower“ auszugleichen, eine Tatsache die durch die Opfergabe einer Götterstatue in Form eines goldenen Penis in barocker Manier metaphorisch aufbereitet wird. Der Penis wird dann auch herumgereicht, Timagene kopuliert mit diesem – so viel zu toxischer Männlichkeit.
Cencic und das Festival haben sich etwas getraut und wurden mit donnerndem, die Holzverkleidung erzittern lassendem Applaus gewürdigt. Jede Arie ist gesanglich aber auch schauspielerisch ein Genuss. Eine Inszenierung, die mit politischer Ironie und viel Aufwand in der gestalterischen Präsentation des Werkes, dem Sinn eines Werkes dieser Länge huldigt. Denn nur so kann man den Geist der neapolitanischen Oper in die heutige Zeit tragen. Dem Beifall des Publikums Rechnung tragend, wird das Stück laut Georg Lang, künstlerischer Betriebsdirektor des Festivals, bereits 2024, spätestens 2025 in einer Neuauflage wieder auf die Bühne gebracht werden – zu Recht.