Ahmet Gül hat Musik studiert und ist gleichermaßen in der europäischen wie in der türkischen Gesangstradition zuhause. Im interreligiösen Chor Trimum, ein von Bernhard König 2012 ursprünglich an der Stuttgarter Bachakademie ins Leben gerufenes Projekt, kann er beides verbinden. Im Projekt „Fugato“ der Württembergischen Philharmonie Reutlingen kommt Gül, der im Hauptberuf als Telefonist am Esslinger Klinikum arbeitet, dagegen nur einmal kurz dazu, seine Gesangskünste vorzuführen. Am Arm geführt und sekundiert von Lucie Mackert, stellt der blinde Sänger als Erzähler den Zusammenhang her. Wieder und wieder, insgesamt zehnmal, hebt er an: „Es war einmal ein Ton.“
Musikalisch beginnt das Konzert im Esslinger Neckarforum mit dem Lied der Ney-Flöte des 1979 verstorbenen afghanischen Poeten, Sängers und Komponisten Nainawaz nach dem Text des Dichters Rumi aus dem 13. Jahrhundert: „Ich suche die Herzen derer, die von Einsamkeit gequält sind – nur sie verstehen den Schmerz meiner Sehnsucht. Wer weit entfernt ist von seiner Heimat, der sehnt sich nach dem Tag seiner Rückkehr.“ Die afghanischen Jugendlichen, die den Chor bilden, haben dieses Lied erst in Reutlingen kennengelernt, durch den Chorleiter Monir Naachiz. So geht Bernhard König mit dem Problem um, unbegleitete Flüchtlinge ohne musikalische Vorbildung mit professionellen Orchestermusikern zusammenzubringen: Es braucht erfahrene Musiker aus ihren Herkunftsländern, um die Verbindung herzustellen.
Ende 2015, als immer mehr Geflüchtete auf der Balkanroute nach Mitteleuropa gelangten, ergriffen die Musiker der Württembergischen Philharmonie Reutlingen die Initiative. Sie suchten nach musikalischen Begegnungen und wandten sich an König, mit dem sie bereits im Projekt „Accompagnato“ im Rahmen des Netzwerks Neue Musik erfolgreich zusammengearbeitet hatten. Seinerzeit hatte er Behinderte der Reutlinger Lebenshilfe mit den Orchestermusikern zusammengebracht, nun ging es um einen wesentlich größeren Kreis von Akteuren, die nicht so einfach zu greifen waren. In alle Richtungen, zu Freundeskreisen und Flüchtlingsunterkünften im Gebiet zwischen Tübingen und Esslingen, streckte er seine Fühler aus. In den ersten neun Monaten rechnete er immer damit zu scheitern.
Experimentelle Gebrauchsmusik
Experimentelle Gebrauchsmusik nennt König seine Herangehensweise. Neue Musik, mit großem N, einem unvorgebildeten Publikum zu vermitteln, interessiert ihn nicht. Was er möchte, so König, ist Bereiche aufsuchen, „in denen die Gesellschaft eine neue Musik mit kleinem n brauchen könnte.“ Ein Orchester wie die Württembergische Philharmonie hat nach seiner Beobachtung „nicht die interkulturelle Expertise, die es für ein solches Projekt braucht.“ Also suchte er unter anderem über das Trimum-Netzwerk nach Experten wie Gül und Naachiz. Auch sich selbst maßt er keinesfalls an, auf diesem Gebiet ausreichend bewandert zu sein. Daher übergab er die Leitung der interkulturellen Programmteile an den israelischen Gitarristen und Arrangeur Alon Wallach, während er selbst das Gesamtprogramm choreografierte und die Orchesterparts schrieb.
Musikalisch im Zentrum steht das Fugato-Ensemble, das neben Wallach selbst, der in Stuttgart Musik studiert hat und danach in Deutschland geblieben ist, aus fünf Musikern der Württembergischen Philharmonie und fünf geflüchteten Musikern besteht. Die Iranerinnen Mahdiyeh Meidani und Farzaneh Soorani spielen versiert Setar und Santur, der Kurde Alaa Gitarre. Dazu kommen die afghanische Sängerin Ermia und der iranische Sänger Ebrahim Cheraghi Hamoole. Der afghanische Chor bekommt Verstärkung durch den Instrumentenbauer Salam Ghafuri, der die Tanbur spielt, ein in diesem Fall der indischen Sitar recht ähnliches Instrument, und den Tabla-Spieler Djalal Sepas. Aus Esslingen sind nicht Musiker, sondern die Akrobatentruppe United Unicorns dabei, die allerdings ein Problem hatten, weil mehrere ihrer sehr aktiven Mitglieder aus Gambia abgeschoben wurden. Dafür hatten sie im passenden Moment Besuch von der chilenischen Straßentheatergruppe Colectivo Racún. Der Kontakt kam zustande durch Matias Urroz, der als Physiotherapeut und Akrobat im Bundesfreiwilligendienst nach Esslingen kam, eine wesentliche Stütze der Unicorns.
Geeignet, die Ohren zu öffnen
Immer wieder beginnt Gül: „Es war einmal ein Ton …“ und erzählt Schritt für Schritt eine Geschichte von Krieg und Verfolgung, Angst, Vertreibung und Flucht, Ankunft in einem neuen Land, den „Tönen, die schon immer hier waren“ und nicht wollen, dass die „fremden Töne“ bei ihnen mitspielen, bis schließlich die Asylanträge geprüft sind und einige der fremden Töne wieder fortgeschickt werden. Dazu spielt das Orchester, und die Gauklertruppe setzt die Handlung in bewegte Bilder um, so dass es schwerfällt, sich zwischen Zuhören und Zusehen zu entscheiden. Dazwischen erklingen Lieder aus dem Iran, Afghanistan, Syrien und von Kriegen in Afrika, und die Beteiligten erzählen ihre eigenen Geschichten: Der Instrumentenbauer Ghafuri hat acht Jahre gebraucht, um sein Metier zu erlernen, das er 32 Jahre lang ausübte, bis die Taliban alles kaputtmachten. Hamoole konnte nur als „Kellersänger“ auftreten, ständig von Verhaftung und Misshandlung bedroht. Die elfjährige Tina sagt: „Ich bin eine Afghanin, ein Afghanin, die Schlimmes sah“ und am Ende: „Auch wenn unsere Gesichter sich unterscheiden […], sind wir doch alle nur Menschen.“
Zeitzeugenberichte, Gedichte aus einer Textwerkstatt, Lieder, Akrobatik, und dazu noch die Württembergische Philharmonie: Es ist ziemlich viel, was König hier zu einer Parabel von Flucht und Vertreibung, Abwehr und Annahme des Fremden zusammengeflochten hat. Das geht nur, wenn sich niemand in den Vordergrund drängt, schon gar nicht die Philharmonie, die zu einer echten Begegnung nur finden kann, wenn sie allen anderen Beteiligten viel Raum lässt. Die Mittel der Erzählung sind schlicht, auch für Kinder ohne weiteres geeignet. Was erzählt wird, ist von der Realität derer, die da auf der Bühne stehen, oft nur um Haaresbreite entfernt. Eine Klimax erreicht das Programm, als Ahmet Gül die Namen von Geflüchteten verliest, die im Mittelmeer ertranken. Allerdings sind ihre Namen oft gar nicht bekannt. Wie können wir ihrer gedenken? Nur mit Musik, sagt Mackert, und dann steht eine Zeitlang das Orchester im Mittelpunkt, mit einer sehr schön ausbalancierten Musik, weder schrill noch laut, aber auch nicht einlullend: geeignet, die Ohren zu öffnen.