Schärfer hätten die Mozart-Kontraste kaum ausfallen können. Am Théâtre de la Monnaie in Brüssel inszenierte Krzysztof Warlikowski Mitte der Woche „Don Giovanni“: Inspiriert vom Film „Shame“ zeigte er den letzten Arbeitstag eines Sexsüchtigen von heute – vom Auftauchen der lodernden Lust in der Theaterloge des Komturs, dessen Tochter den Unersättlichen augenscheinlich ebenso begehrt wie er sie, über die verschiedensten Anläufe des Titelhelden, da oder dort rasch zum Zuge zu kommen, bis zum Tod in d-Moll auf dem nobel-neureichen Küchentisch, an dem der große Verführer das Essen für sich und den „steinernen Gast“ selbst zubereitet.
Das Ganze gewürzt mit den saftig-deftigen Nummern, die die drei jungen Frauen Zerlina, Elvira und Anna abziehen in den Niederungen und als Höhepunkte des tausendunddreifachen erotisch-sexuellen Geflechts: Seelenmüll gibt’s nur als Beilage zum Primärtreiben. – Drei Atemzüge später dann „Die Zauberflöte“ im „Müllsack“, dem Ausweichquartier der Kölner Oper: So manierlich, reinlich und grundordentlich, wie man es sich für einen Besuch mit Oma und Enkel nur wünschen mag. Und weihnachtsurlaubsgestimmt, dass einem die prospektverwöhnten Augen fast überlaufen.
Die Ankündigung der Kölner Oper versprach eine „Erzählform, die sowohl den humorvollen Aspekten des Werkes Ausdruck verleiht als auch eine zeitgemäße Interpretation präsentiert“. Zu Mozarts Es-Dur-Ouverture für die „Teutsche Oper“ von 1791 zeigt ein Filmchen den Landeanflug eines einmotorigen Propellerflugzeugs älterer Bauart mit offenem Cockpit über einer unwegsamen Regenwaldregion. Indem sich der Vorhang hebt zum „Zu Hülfe! Zu Hülfe! Sonst bin ich verloren“ sieht man den Prinzen Tamino, den sympathischen Spieltenor Mirko Roschkowski, mit Motorradfahrerbrille. Nach der Havarie seines Fliegers bedroht den desinformierten Franzosen (holla, zeitgemäß!) eine virtuelle Schlange (Achtung: Humor!). Der Bruchpilot wird – inmitten tropischer Vegetation – mit dem Feinkosthändler Papageno konfrontiert und ungefragt gepaart. Drei mittelalte Abgesandtinnen der sternflammenden Königin geben die Spielregeln vor für einen schicklichen Kampf der Geschlechter vor. Die Anstandsdamen dieser Großherzogin der Dämmerung singen: Für den unwahrscheinlichen Fall eines Druckabfalls, bei dem sie ihr „Herz der Liebe weih’n“, müsse es der aus seiner Ohnmacht aufwachende Prinz sein (die zweite Dame muss aber wohl schon geweiht haben und ist sichtbar guter Hoffnung).
Nein, realistisch darf man die Zaubermärchenerzählweise von Mariame Clément gewiss nicht nehmen – und wohl auch nicht symbolistisch. Das Wiener Vorstadttheatermaurerägypten des späten 18. Jahrhunderts mutierte in leicht exotisches Hinterland des 20. Jahrhunderts nächst dem Äquator. Die Inszenierung, die so etwas wie einen postmodernen Klassizismus für sich reklamiert, überhörte geflissentlich die denkwürdigen Implikationen des Männer- und Frauen-Bildes, das Emmanuel Schikaneders Textbuch entfaltet. Von der Inszenierung unkommentiert bleibt Sarastros nicht nur grammatikalisch anfechtbare Botschaft an die Frauen: „Ein Mann muss eure Herzen leiten, denn ohne ihn pflegt jedes Weib aus ihrem Wirkungskreis zu schreiten“. Auch die analogen Passagen im 2. Aufzug (wie „Bewahret euch vor Weibertücken“ etc.). „Ja“, meint die Regisseurin, sie sei von ihrer „Ausbildung und Herangehensweise her sehr klassizistisch geprägt. Auf Französisch würde man sagen: ich bin eher ein ‚classique‘ als ein ‚romantique‘. Postmodern ist man de facto, wenn man 2014 lebt.“
Charmant und keusch
Unterm Aspekt der zeitgemäßen Postmodernität auf klassizistischer Grundlage erscheint durchaus nachvollziehbar, dass Julia Hansen für die zweite Halbzeit so etwas wie den Repräsentationsraum eines Naturhistorischen Museums bauen ließ. Mariame Clément beraumte darin eine multinationale und polyglotte Wissenschaftler-Konferenz an, für die der Fußboden gewienert wird wie einst in der legendären Frankfurter „Aida“-Inszenierung von Hans Neuenfels. Eine Rutsche führt in den observierten Raum der Prüfungen. Eine der vielen Schubladen der Wandschränke stellt schließlich die Beziehungskiste für Papageno und Papagena bereit. Auch das mag unterm Aspekt des „Humorvollen“ verbucht werden: Charmant und keusch.
„Im aktuellen Fall der ‚Zauberflöte‘ geht es um das Davor“, erläuterte die Regisseurin. „Es geht um Aufklärung – und was man damit heute macht.“ Sie erteilte eine eindeutige szenische Antwort: Schublade zu! Und zwar bevor es in der Kiste rappelt. Zum „Zeitgemäßen“ hätte gehört, dass der nette Prinz im Laufe der aus moderner wie aus postmoderner Sicht unmotivierten Prüfungen seiner Pamina Claudia Rohrbach kurz eine SMS schreibt und auf den bedingten Sinngehalt des Schweigegebots in einer Welt der flächendeckenden Talkshows und rundumdieuhrbeschallenden PressesprecherInnen verweist – ergänzt um ein heiteres „bis später“.
Wenn zur klassizistisch-postmodernen Interpretationsweise der Verzicht auf alle kritischen Fragen an das Werk gehört, dann hat Mariame Clément das Plansoll zu hundert Prozent erfüllt. Zum Schlusschor, der den Sieg der Stärke des „starken Geschlechts“ in imperialem Es-Dur besingt, „Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron‘“ gekrönt wissen will, lässt Clément eine Oberansicht des blauen Planeten im Hintergrund zeigen und eine vorweihnachtliche Familienzusammenführung vorn. Diese „Zauberflöte“, die zunächst in Strasbourg gezeigt wurde und auch noch nach Nizza wandern soll, ist garantiert jugendfrei ab drei Jahre. Sie würdigt und zelebriert ausschließlich naive und keimfreie Formen von Liebe. In Kontrast zu den triebenthemmten und zumindest ansatzweise exzessiven Liebeswünschen der Papageno/Papageno-Sphäre, ja: in deren radikaler Ausblendung profiliert sich Cléments säuberliches und wohlriechendes Theater als Spätgeburt der moralischen Anstalt – in einer Weise, dass man glauben möchte, die Regisseurin wolle ihr Publikum der verlogenen Moral nordamerikanischer Sekten zutreiben. Dass das Machwerk „Zauberflöte“ am Ende „harmlos“ sei, ist eine Lüge, die die Rezeptionsgeschichte längst gründlich widerlegte.