Als vor gut einem Jahrhundert das Melodiöse aus der ernsthaften Musik verbannt wurde, auf überbordende Emotionalitäten des frühen Schönberg etwa reagierend und als Reflex auch auf die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs, konnte keiner ahnen, welche Klangdimensionen sich öffnen würden. Ganz abstrakt. Und voll konkret.
Das Wagner-Säuseln sollte eliminiert, das Heile-Welt Romantisieren überwunden werden. Im Ideal wäre gar das Manipulative, das aller Musik innewohnen kann, in erkenntnispraktische Dimensionen einer neuen Aufklärung transformiert worden. Dass dann weltpolitisch gesehen alles noch schlimmer kam und gerade heute der Satz Die Hoffnung stirbt zuletzt alleine weiterhilft, kann kein Trost sein. Allein die Musik hat viel versucht. Hat enge Grenzen geöffnet, hat Annäherungen, Anregungen, Anbahnungen rund um den Globus ermöglicht. Und es ist ihr gelungen, im Lauf von Jahrzehnten aus dem Mief verstaubter Avantgardisten-Zirkel heraus sich in opulente Ereignisse zu verwandeln, die dem Publikum sogar das Bilden von Schlangen an der Abendkasse und Bravo-Orgien abtrotzen.
So geschehen diesertage in München. Wo zum Abschluss der musica viva-Saison des Bayerischen Rundfunks auch noch das räsonanz-Stifterkonzert München 2018 als Initiative der Ernst von Siemens Musikstiftung zusammen mit dem BR und dem LUCERNE FESTIVAL integriert war – wenige Tage nach der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an Beat Furrer. Und inmitten aller Schattenwürfe der Münchener Biennale, jenes Festivals für Neues Musiktheater, das einstens von Hans Werner Henze gegründet worden war. „My Melodies“ nennt sich die Auftragskomposition der musica viva, die Helmut Lachenmann über etliche Jahre hin Schritt für Schritt hat entstehen lassen. Die angespannte Erwartung war groß. Dem sympathisch uneitlen und unspektakulär agierenden und faszinierend den Klangzauber generierenden Uraufführungsdirigenten Peter Eötvös am Pult der wohltemperierten und munter engagierten BR-Symphoniker gelang ein bedenkenswerter Abend, den der fulminante Pierre-Laurent Aimard eröffnet hatte mit Lachenmanns „SERYNADE, Musik für Klavier“ (1997/98). Bei der es mehr um die Bewunderung für den sagenhaften Aimard ging als um das Reflektieren über den Serenadenbegriff. Staunende Bewunderung der ganz anderen Art stellte sich ein bei der Aufführung des phänomenalen Marche fatale von 2016/17/18, der nun wahrlich voller Melodien war, scharf gebrochen und anders weitergemacht als gedacht, voller Witz und Ironie samt klangfeiner Raffinesse. Will Lachenmann, als führender Komponist der Republik gehandelt, Mitglied unzähliger Akademien und Träger zahlloser Ehrendoktortitel, wieder tonal und melodiös komponieren?
„My Melodies, Musik für acht Hörner und Orchester“ (UA), erzählte davon nichts. Das war Lachenmann at it‘s best. Und wir dürfen rätseln, was es mit Melodienseligkeiten inklusive ihrer dialektischen Infragestellung so alles auf sich hat. Beim Meister der dramaturgischen Bogenformen, aufregenden Einstiege und verwunderlichen Ausstiege samt aller generellen und generalen Pausen. Ein erstes Hören, knapper visueller Kontakt mit dem Notenmaterial hilft da auf Anhieb nicht weiter. Da steht ertragreiche Arbeit ins Haus.
Die auf seine Weise das wahrlich phänomenale Chamber Orchestra Of Europe seit Jahrzehnten leistet – in allen Bereichen der Musik. Und das in bewundernswerter Weise von historisch informiert bis aktuell aufgeklärt. Ein Ensemble voller Solistenqualitäten. Überzeugend ohne Dirigent. Oder auch mit. Vom inspirierenden Gründergeist Claudio Abbados ausgehend bis zum aktuellen Dirigenten in München, dem schier unglaublichen David Robertson. Der ein gigantisches Programm aufgeschichtet hatte – und das dann bei erheblich überforderter Klimaanlage artistisch und vital und ungemein präzise durchzog. War es nun der kontrapunktisch irisierende Titel „Instances“ des großen Elliott Carter. Oder waren es die Three Inventions“, Klangschichtungen überbordender Strukturereignisse des subtil differenzierenden „George Benjamin. Oder Enno Poppes sagenhafter, wild und zwischen allen Extremen changierender „Filz, Konzert für Bratsche und Kammerorchester“ von 2014. Mit der wahrhaft unbeschreiblich kraftvollen und zugleich fein ziselierenden Großmeisterin an der Bratsche, Tabea Zimmermann. Oder Penthode für fünf Gruppen zu vier Instrumentalisten nach der Pause, noch einmal von Elliott Carter.
Das alles zielte gradlinig auf den zweifelsfreien Höhepunkt des Abends zu, auf György Ligetis „Konzert für Klavier und Orchester“ von 1985/1988 mit dem hier sich dann selbst übertreffenden Pierre-Laurent Aimard. Diese rhythmischen Vertracktheiten, diese strukturellen Verrücktheiten, diese akustischen Verrenkungen, Lautheiten und zärtliche Geheimnisse andeutenden Passagen, das führte zu Bravo-Tsunamis. Undenkbar zu Frühzeiten der neuen Musik. Das waren jetzt Abende voller Sinnlichkeit, voller intellektueller Herausforderung. Voller Freude darüber, dass Musik auch und wieder schön sein darf. Wenn manchmal auch sehr laut. Oder strukturüberlastet. Oder schlicht und ergreifend zu lang. Im passenden Moment einen Schlusspunkt zu finden, das ist schon auch eine Kunst. Und die holt ihre Existenzberechtigung gerne aus den Schichtungen des Streitens, des Diskurses. Das ist gut so.