Das Festival d’Aix-en-Provence ist zwar kleiner dimensioniert als die Salzburger Festspiele, doch anders als diese oder die Wagner-Festspiele in Bayreuth prägt es derzeit das Musiktheater in Europa nachhaltig und in erstaunlichem Umfang. Gerade auch mit den neuen Arbeiten, die regelmäßig präsentiert werden. George Benjamins auf dem Razo eines Troubadours des 13. Jahrhunderts basierende Oper „Written on Skin“, die Katie Mitchell im vergangenen Sommer in Aix, zwischen Hochmittelalter und Gegenwart changierend, fulminant inszenierte, wurde bereits in der vergangenen Saison von der Staatsoper in München und von dem Theater an der Wien übernommen; die Original-Produktion des von einer kannibalischen Pointe gekrönten Stücks kommt im November auch an die Opéra Comique in Paris. Die Oper Bonn bringt im September Magdolna Parditkas Neuinszenierung heraus. Der weitere Erfolgsweg dieser Beschwörung eines schönen und schaurigen Mittelalters mit effektsicherer moderat-moderner Musik scheint vorprogrammiert.
Auch in diesem Jahr räumte der Intendant des Festivals in Aix, Bernard Foccroulle, neben Strauss und Verdi, Mozart und Cavalli dem Neuen eine gewichtige Position ein. Eine halbe Stunde entfernt vom Stadtzentrum, auf der weiträumigen Domäne Grand Saint-Jean, kam Vasco Mendonças „The House Taken Over“ zur Uraufführung. Die Dramaturgin Sam Holcroft arrangierte das Libretto aus einer lateinamerikanischen Novelle – „Casa Tomada“ von Julio Cortázar –, die sich hörbar an Edgar Allan Poe orientierte. Für die Realisierung des Zwei-Personen-Stücks wurden die Freilufttribünen neu installiert – um 90° gedreht. So ging der Blick nicht mehr hinaus Richtung Sonnenuntergang auf die farblich fein nuancierten Agrarflächen, sondern durchaus sinnfällig auf die ruinierte Fassade des früheren Hauptgebäudes der Domäne.
Vor ihr richtete Alex Eales zwei namenlosen Geschwistern eine Wohnung ein. Es ist die elterliche Wohnung mit manchem Erbstück, aus der die beiden nicht wegkamen und so aneinander hängen blieben. Abgeschottet von der übrigen Welt verstreicht ihnen die Zeit langsam mit Ritualen, die den Tag strukturieren. Beim Frühstück irritieren den merkwürdig steifen Bruder und die mit den häuslichen Verrichtungen ausgelastete ältliche Schwester seltsame Geräusche. Der Tonsatz signalisiert, wie in ihnen Verunsicherung aufsteigt. Sie steigert sich zur Angst: Türen springen auf und Bücher purzeln aus dem Schrank. Sind es die Geister des toten Altvorderen, die da spuken? Die beiden ziehen sich aus einem Zimmer der Wohnung nach dem anderen zurück und verbarrikadieren sich schließlich auf engstem Raum.
Oliver Dunn und Kitty Whately singen, spielen und verkörpern vorzüglich – und getreulich realistisch geführt von der Regisseurin Katie Mitchell – die Aggregatzustände der Ahnung und Besorgnis, der Lähmung und hysterischen Hilflosigkeit. Die Familienanamnese bleibt rudimentär: Es will und soll rätselhaft bleiben, was die Geschwister aneinander kettet. Nicht auszuschließen, dass es eine Gewalttat ist oder eine Verkettung von Vergehen und Verbrechen im äußerlich so wohlbürgerlichen Ambiente. Am Ende können es die beiden im kleinen Flur vor der Haustüre nicht mehr aushalten. Mit der eskalierenden Beunruhigung der beiden Protagonisten und der Einschränkung ihres Lebensraums bietet die Partitur von Mendonça Räume für mancherlei Stimmungen und stimmtechnische Facetten. Am deutlichsten beim finalen Aufbruch des Geschwisterpaars in ein neues Leben – mit sanft-beschaulicher neuer Kammer(opern)musik, die neurotische Angstzustände und (nicht auszuschließende) inzestuöse Schrecken diskret illuminiert – oder auch heftiger.
Mit den Lyrismen und Parlando-Passagen von „The House Taken Over“ stellte sich der 36-jährige portugiesische Komponist dezidiert in eine von Benjamin Britten und seinem Lehrer George Benjamin herrührende Traditionslinie. Die 13 Musiker des von Etienne Siebens geleiteten Amsterdamer „Asko|Schönberg Ensemble“ nutzten subtil die in den letzten Jahren durch Saitenschaben und Kratzen, kleine Glissandi, gepressten Bläseransatz et cetera erweiterten Möglichkeiten des Klangspektrums. Auch durch die Einbeziehung des Didgeridoo, eines Blasinstruments der nordaustralischen Aborigines, und einer Kinder-Melodica für die anrührende Kindheitserinnerung der Schwester. Joey Marijs war in der Schlagzeugecke mit Glocken, Gongs und Gamelan-Spielwerk gut und gern beschäftigt.
Mendonças einstündige Kammeroper wird in der kommenden Saison in wenigstens einem halben Dutzend Theatern eingesetzt – in Lissabon, Brügge, Antwerpen und Gent, Luxemburg und Strasbourg. Deutsche Häuser dürften nachziehen.