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Die „Rote Laterne“ von Christian Jost an der Oper Zürich. Foto: Monika Rittershaus
Die „Rote Laterne“ von Christian Jost an der Oper Zürich. Foto: Monika Rittershaus
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Gefahren der Polygamie am ungesicherten Brunnenrand – Die Oper Zürich zeigt Christian Josts „Rote Laterne“

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„Wifes and Concubines“ ist in hohem Maß Anamnese einer spätfeudalen chinesischen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Roman machte den 1963 geborenen Autor Su Tong (Tong Zhonggui) berühmt. Der Regisseur Zhang Yimou nutzte das Buch und dessen Bestsellerqualitäten 1991 für den Film „Rote Laterne“. Er wurde mehrfach preisgekrönt und rückte zu den Kino-„Klassikern“ auf. Es scheint nicht unproblematisch, einen medial bereits derart gut verankerten Stoff auch noch für neues Musiktheater nutzen zu wollen – und das auch noch mit massiver Unterstützung der Ringier AG. Diese ehrenwerte Gesellschaft betreibt mit dem „Blick“ eine rechtslastige ausländer- und intellektuellenfeindliche Zeitung, ist also maßgeblich für deftige Unterhaltung der billigen Ränge zuständig.

Mit dem Projekt, zu dem sich Christian Jost das Libretto selbst einrichtete, geht es um Unterhaltung in feinerem Tuch und für die Besserverdienenden. In Seide und Wohlklang wendet sich Literaturoper des konventionellen Zuschnitts an ein Publikum, das mutmaßlich von der literarischen Vorlage wenig Kenntnis nahm und kaum ins Kino gehen dürfte. Eine gewisse ansprechende Aktualität stellt der Umstand her, dass die Figuren, die in Nadja Loschkys feinfühliger, unaufregender und unblutiger Inszenierung die Bühne bevölkern, umstandslos auch im Parkett und auf den Rängen des Opernhauses am Utoquai vertreten sein könnten. Vornan der Bariton Rod Gilfry als der wohlhabende und auf den angestammten Anrechten aus dem Mehrfach-Ehesystem bestehende Master Chen. Aber auch die Mezzosopranistin Liliana Nikiteanu als Gattin Nr. 1 und oberster Ordnungsfaktor im abgeschirmten Imperium Chens, Nora Gubisch als dessen ebenfalls in der Mezzo-Lage verortete originäre Zweitfrau. Sie zeigt ein scheinbar weites Herz, dann besondere Perfidie beim Wegbeißen der zwangseingemeindeten Neuen. Oder auch die eigentlich optimal funktionierende Drittfrau in den besten Jahren. Sie allein verfügt dank der selbstverständlichen Präsenz des Hausarztes über eine ungehemmte Bedürfnisbefriedigungstechnik. Stumm stehen, tapern und fummeln von Anfang bis Ende sieben lemurenhafte Gäste herum – es sind die vergegenwärtigten allgegenwärtigen Ahnen. Diese Alten müssten nur weiße Hemden und schwarze Anzüge anziehen, um unerkannt im Züricher Publikum zu verschwinden. Kurz: Adressat des Werks ist offensichtlich ganz überwiegend der ‚Silbersee‘ jenseits des Orchestergrabens. Bei dem schlagen so viel vergeigte Erotik, unerfüllte Sexualität und mitleidheischende Lebensnöte der bewunderungswürdigen Hauptdarstellerin mittelgroße Wellen.

Mit der „Roten Laterne“, die zu Beginn und am Ende leibhaftig am Bühnenfirmament prangt, wird die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die nach dem Selbstmord ihres Vaters das Studium abbrechen muss und durch Kaufheirat als vierte und jüngste legale Frau hinter den hermetischen Mauern des Anwesens von Master Chen gelangt. Sie kann nach menschlichem Ermessen lebend dort nicht wieder herauskommen. Sie stößt – damit knüpft die „Rote Laterne“ an den Schauerromanen und -opern des 19. Jahrhunderts an – auf gespenstische Erscheinungen und insgesamt auf Verhältnisse, die alle beteiligten Frauen nur verhärten und zugrunde richten können. Ein strenges Tages- und Nacht-Reglement, dessen Usancen und Nuancen allerdings der „vierten Herrin“ Song-Lian nur dilatorisch kommuniziert werden, ist das Rückgrat der Hierarchie. Die konstituiert sich primär sexuell, erfasst aber alle Lebensbereiche. In diese Haus- und Hackordnung ist auch noch die intrigant-intransigente Dienerin eingebunden – sie stört schon den Abend der Inbetriebnahme Song-Lians durch Herrn Chen. An den Rändern der Kernfamilie bewegen sich der gegenüber weiblichem Liebesbegehren schwerhörige Sohn der Gattin Nr.1, dessen Freund und der mit Ganzkörpereinsatz therapierende Arzt.

Die Veranstalter beschrieben das Kammerensemble in der prekären Konstellation, das wenigstens als Sextett mit assoziierten Solisten zu definieren wäre, als „katastrophisches Beziehungs-Fünfeck“. Vergaßen sie das Familienoberhaupt wg. dessen sich abzeichnender Impotenz zu berücksichtigen oder können sie nicht bis sechs zählen? Es soll schon Dramaturgen gegeben haben, die lesen konnten ...

Die Oper „Rote Laterne“ bildet nach den Worten von Christian Jost den letzten Teil einer Trilogie, an deren Anfang „Die Arabische Nacht“ steht und in deren Mitte „Rumor“ (wobei das zyklische Moment weder durch den Stoff vorgegeben oder erzielt wird noch durch musikalisch-motivische Verklammerungen). Jost hat, ohne in auffälliger Weise auf chinesische Intonationen zu rekurrieren, mit großem Geschick eine effektive und bestens goutierbare Theatermusik geschrieben. Sie polstert das unfreie Leben der Frauen freundlich. Die Gesangsstimmen sind in hohem Maß tonal strukturiert. Gut sangbar erscheint ganz besonders die Sopranpartie der May-Shan (spontan überzeugend: Claudia Boyle). Nicht nur wenn sie mit sich selbst (dank Voraufzeichnung) Duett singt, gelingen Shelley Jackson berührende Momente. Die Partie der unter Zwang Geheirateten rückt wie selbstverständlich in die Traditionslinie großer Frauenrollen wie der Lucia di Lammermoor oder, noch deutlicher, der Judith in Béla Bartóks „Blaubart“ (wobei dort gerade auch die vokale Textur erheblich avancierter zugeschnitten wurde). Anders als die Lineaturen der Gesangsolisten nährt sich der Orchestersatz auch von freier Atonalität und putscht sich mit einer Fülle von Reizdissonanzen auf. Neben Anklängen an balinesische Trommelkunst und mehrfach auch der minimal music finden sich freilich in der Partitur vor allem Fortschreibungen aus der Symphonik des späten 19. Jahrhunderts und ein Gespür für Stimmungswerte expressionistischer Musik.

Neben der stringent zum Tode führenden unglücklichen Liebeslebensgeschichte der Song-Lian dürfte diese Melange – sehr ausdrucksbemüht und intensiv dirigiert von Alain Altinoglu – zur Kurzweil des Hundert-Minuten-Stücks beitragen. Das tut auch Nadja Loschky, wenn sie der Protagonistin die ganze restliche Familie nebst Zubehör als Panoptikum auf einem Laufsteg gegenübertreten lässt oder die früher ertrunkenen beziehungsweise ertränkten Frauen aus dem Brunnen auftauchen.

Womöglich ist „Rote Laterne“ auch ein Lehrstück – adressiert an alternde Polygamisten: Sie sollten sich gut überlegen, ob sie fortdauernd die Kohabitation mit vier Frauen verschiedener Altersklassen anstreben, wenn es in ihrem Garten einen ungesicherten Brunnen gibt.

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