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In der letzten Ausgabe der nmz ist Tobias PM Schneids erste Oper „swin swin“ ausführlich vorgestellt worden: „Siamesische Zwillinge der Seele“, nmz 10/1997, Seite 33. Die Uraufführung des „Musiktheaters in zehn Szenen“ am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken bestätigte die Vorauseindrücke, die Libretto und Partitur vermittelten: Schneid hat auf Anhieb seine Affinität zur musikalisch-szenischen Gestaltung bewiesen, auch sein Gespür für ein Thema, das über das bloße Nacherzählen eines „Schicksals“ hinausweist.
Mythos und Legende überliefern die Schicksale von Zwillingspaaren. Walter Friedrich verfolgt in seinem Programmheftbeitrag die Spuren zurück bis zu Zeus und dem Zwillingspaar Castor und Pollux. In unserer Zeit stammen Zwillingspaare aus weniger göttlich-prominenten Seitensprüngen. Die bürgerliche Erotik sorgt für trivialere Herkunft. Damit degeneriert das Thema zum Fall. Psychologen, Psychoanalytiker, Soziologen bemächtigen sich des Zwillingsphänomens: Wie gestaltet sich menschliches Leben, das ja immer noch als ein individuelles begriffen wird, in der Verdopplung eines Lebewesens? Inwieweit wird die schon von Natur her schwierige Individualisierung aus einer Doppel-Existenz durch die vorgeformten, genormten Lebenserwartungen der bürgerlichen Gesellschaft erschwert oder gar verhindert?
Matthias Kaiser, Regisseur und Dramaturg am Saarbrücker Staatstheater, faszinierte der „Fall“ der Zwillinge June und Jennifer Gibbons aus England, der in den sechziger und siebziger Jahren die Gemüter bewegte. Erst der Tod des einen Mädchens gab dem anderen die Chance zu einem „normalen“ Leben. Matthias Kaiser fand in Tobias Schneid den komponierenden Mitstreiter und in Elisabeth Gutjahr die Librettistin, die schon für Franz Hummel die Textbücher für dessen Kammeropern „An der schönen blauen Donau“ und „Gesualdo“ geschrieben hatte. Gutjahr, Schneid und Matthias Kaiser als spiritus rector und Regisseur der Uraufführung halten bei der Gestaltung des Stoffes ebenso Distanz zur bloßen Nacherzählung eines doppelten Lebensschicksals (was leicht ins Melodramatische führen könnte) wie zur Auflösung der Textstrukturen und „Übersetzung“ der Textinhalte in Klangbedeutungen. In den zehn Szenen spiegeln sich konkret Dispositionen und Situationen der beiden Mädchen, die hier Marilyn und Mirjam heißen. Die Situationen werden jedoch nicht psychologisierend durchgespielt, wie in einer realistischen Geschichte, sondern gleichsam als Beobachtungspositionen angeordnet. In den auf diese Weise verobjektivierten Vorgängen erscheinen ausschnitthaft die Motive, die die Existenz eines Zwillingspaars beschreiben: Zustände, Erfahrungen, Gefährdungen. Gibt es im „Doppel“ eine Einzel-Individualität, oder ist diese Individualität immer an die des „Doppels“ gebunden? Unter welchen Voraussetzungen könnte ein Ausbruch aus der Doppel-Individualität gelingen? Nur, wie hier, in der verbrecherischen Tat einer gemeinsamen Brandstiftung? Wie funktionieren Versuche der Außenwelt, eine Trennung der Zwillinge zu bewirken? Wie und warum igeln sich Zwillinge gegenüber der sie umgebenden Welt ein: ein Mittel ist die Sprache, die zu einem Geheimcode („swin swin“ - der Titel deutet darauf hin) umfunktioniert erscheint - unverständlich für alle Außenstehenden. Ist der Tod eines Zwillings die Chance für den anderen, in ein „normales“ Leben zu finden? Am Ende, nach dem Tod Marilyns, schaut Mirjam in den Spiegel und erblickt ihr eigenes Bild, das auch das der Toten war. Ist es ein optimistischer Schluß? Oder im gespiegelten Eigenbild die neue Verzweiflung: man kann seinem Bild nicht entkommen?
Das Werk bedient sich vorteilhaft der Dramaturgie einer Versuchsanordnung: der Betrachter bleibt in der Distanz, er wird nicht überwältigt durch Mitleiden, sondern zu genauem Zuschauen und Mitdenken angeregt. Ähnlich, wenn auch mit anderen Ausdrucksmitteln arbeitet beispielsweise Helmut Oehring in seiner „Dokumentaroper“, wo er die Ausnahmesituation der von Geburt an Taubstummen darstellt, wobei er taubstumme Akteure in die Aktionen der Musiker und Sänger einbezieht. Geschärft wird so der Blick für existentielle Außenseiterpositionen, für die integrierende Patentlösungen nicht abrufbar sind. Vielleicht ist diese Polarisierung zwischen Außenseitertum und gesellschaftlicher Normalität in Schneids „swin swin“ mit den Figuren der Mutter, des Spielkinds und des Erziehungsbeauftragten noch etwas zu konventionell und schematisch angelegt, zu wenig scharf in Richtung Groteske und „unheimlicher“ anonymer gesellschaftlicher Macht zugespitzt. Doch die Figuren der beiden Mädchen gewinnen eindringliche Plausibilität und auch plastische Kontur, was nicht zuletzt der Musik zuzuschreiben ist.
Schneid zerlegt die Mädchen-Figuren in sprechende Spielerinnen (Helene Lindqvist/ Barbara Dunkel) und singende Komplementär-Figuren, die bei der Uraufführung auf der Studiobühne des Saarbrücker Theaters in der Alten Feuerwache nicht im Orchestergraben unsichtbar, sondern links und rechts in einer Art „Sing-Turm“ postiert waren, je ein Sopran, ein Alt und ein Countertenor für jeden der Zwillinge. Die physische Präsenz dieser Sänger enthob die ursprünglich wohl gedachte Trennung der Abstraktion: die Vokalisten erschienen als Bestandteil der beiden handelnden Personen. Gleichzeitig erreichte die musikalische Präsentation durch die Dichte der Anordnung eine bemerkenswerte Geschlossenheit. Auch das Orchester saß nicht im „Graben“, sondern schob sich in einem „Keil“ vorn ins ansteigende Parkett. Durch diese Variation instrumentalen Theaters gewann die Aufführung zusätzlich ein theatralisches Moment.
Schneids „Opernmusik“ wird durch die Vorzüge seiner Instrumentalmusik charakterisiert. Aus dem kammermusikalisch besetzten Ensemble (Flöte, zwei Klarinetten, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Klavier, Streichquartett plus Kontrabaß, reich bestücktes Schlagwerk) gewinnt er ungemein vielfältige Klangfarben, die in ihren Tönungen differenziert auf die szenischen Vorgänge abgestimmt erscheinen. Die Musik vermag auch Erregungszustände plastisch zu reflektieren, bewahrt sich bei allem gegenüber der Szene einen weitgehend autonomen Aktionsraum. Keine Illustrierung des szenischen Geschehens also, sondern ein gleichberechtigtes „Konzertieren“ von Musik und Aktion, wobei die Komposition in ihrer genauen, präzisen Konturierung der Szene die Vorgaben mitteilt. Von den Instrumentalisten des Saarbrücker Opernorchesters unter Errico Fresis Leitung wird das äußerst distinkt in den Klangfarben, in der Gestik und Transparenz des Klangbildes, auch in der differenzierten Rhythmik realisiert.
Diese Korrespondenz-Angebote greift Matthias Kaiser in seiner Inszenierung (Bühnegestaltung: Brigitte Benner) geschmeidig auf. Verschachtelte Glaswände verweisen auf das Labyrinthische der zwillinghaften Existenz, den changierenden Blick von Innen nach Außen und umgekehrt. Hinter den Glaswänden wirken die realen Figuren von Mutter, Bevollmächtigtem und Spielkind wie Schemen einer von den beiden Mädchen nicht akzeptierten Realität. Die Auftritte dieser realen Personen enthalten in der szenischen Umsetzung noch zuviel Theaterkonvention. Das müßte surrealer, spukhafter erscheinen. Die Aufführung ist vom Fernsehen des Saarländischen Senders aufgezeichnet worden und wird in den Dritten Programmen zu sehen sein.