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The Littmann-Sessions. Foto: thatswhatshesaeed

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Gegen Repertoire und Etikette im Musentempel – „The Littmann-Sessions: eine Pop-Gala“ in der Staatsoper Stuttgart

Vorspann / Teaser

Das silbern funkelnde Paillettenkleid und die rote Kamelie im schwarzen Haar deuten auf La Traviata. Der Auftritt der eleganten Dame ist jedoch kein wirklicher, da die Sängerin noch mit Einsingen beschäftigt ist: „Ooh jaa, aaah jaaa“ in Dreiklängen rauf und runter. Sopranistin Maria Theresa Ullrich klappt den Flügel auf und begleitet sich holprig zur berühmten Habanera aus Bizets „Carmen“, immer wieder Intonation und Aussprache korrigierend. Lässig in Jeans und Sweatshirt kommt dagegen DJ Laima Adelaide hinzu. Die aus Lettland stammende Elektronikerin schließt demonstrativ den Klavierdeckel, stellt einen Laptop darauf und pumpt über große Lautsprechertürme lautstarke Techno-Beats und gläsernes Klirren in den Saal. Ebenso zweckentfremdet wird das Klavier als Ballettstange von der als Ballerina mit weißem Tütü auftretenden Rapperin Abenaa. Die Singer/Songwriterin mit ghanaischen Wurzeln wettert dann mit anrührend weinerlicher Stimme umso schärfer gegen Rassismus und Patriarchat.

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Nachdem Konzertflügel, Opernstimme, Kleidung, Vorbereitungsrituale und Schauplatz auf Oper und Ballett deuteten, entgleiten die flüchtig beschworenen Genres in Daniela Victoria Kiesewetters Konzept und Regie schnell zu einer bunten Revue ganz anderer Sparten und Stile, die in der Württembergischen Staatsoper Stuttgart sonst nicht anzutreffen sind. Die Bühne füllt sich mit Garderobe, Podesten, E-Gitarre, Drumsets, Mikrophonen, Verstärkern und Sitzgelegenheiten für alle Beteiligten, die nach ihren Auftritten zusammen auf der Bühne bleiben, um zu tanzen oder sich auf Couch und Sesseln zu fläzen. Moderatorin Anka Ebel begrüßt das Publikum im ausverkauften Saal und die von den Fans frenetisch bejubelten Bands, Musikerinnen und Musikern, deren Namen die Conférencière zwischen die sonst hier beheimateten Brünnhilde, Tristan, Tosca, Turandot, Rigoletto, Traviata … mischt.

„Ich will zurück zur Norma … lität“

Das Duo „Zweilaster“ steht mit clowneskem Lo-Fi-Garagen-Punkrock für humorvollen Bürgerschreck und lautstarke Gegenkultur. Rotzig frech rebellieren Ollenixxe und ArnoArial gegen Repertoire und Etikette im altehrwürdigen Musentempel. Schräg singt man kräftige Fäkalsprache „Mit meinem Namen stehe ich für Pisse“ in nicht gendernormativem Outfit mit knallroten Haaren, übergroßer Pumphose, verlottertem Brautkleid oder obszönem Dessous mit aufgedruckten Titten. Der Song „Norma“ meint natürlich nicht Bellinis Oper, sondern den gleichnamigen Discounter, dessen Schnäppchenpreise man angesichts gestiegener Lebenshaltungskosten feiert: „Ich will zurück zur Norma … lität“. Zur tierischen Liebeserklärung „Du bist der beste Kumpelhund“ lockt die Drummerin den auf allen Vieren krabbelnden E-Gitarristen nur mühsam zurück an sein Instrument. Den Auftritt des New-Wave-Soft-Pop-Trios „Levin goes Lightly“ krönen Diskokugel und glamouröser Lametta-Vorhang. Dann klagt erneut Hip-Hop-Musikerin Abenaa „Unsere Welt ist ein Desaster, wir gehen drauf, die Erde ist verkauft, Papa Patriarcha Raatatata“.

„The Littmann-Sessions: eine Pop-Gala“ fand als Kooperation der Staatsoper Stuttgart mit dem Pop-Büro Region Stuttgart statt, das aktuelle Pop-Stipendiat*innen auf die große Opernbühne brachte. Die Gemeinschaftsaktion hat nicht zuletzt kulturpolitische Hintergründe. Opernhäuser sind mit Abstand die kostspieligsten Kultureinrichtungen von Städten und Ländern, weshalb sie zunehmendem Legitimationsdruck ausgesetzt sind und Angebote entwickeln müssen, um die durch Migration, Globalisierung und Digitalisierung gewachsene Diversität von Musik, Musikschaffenden und Gesellschaft besser abzubilden. Statt nur exquisites Programm für wohlhabende Happy few zu machen, sollten sie sich auch für andere Genres öffnen und idealerweise alle in der Gesellschaft vertretenen Altersgruppen, Herkünfte und Kulturen ansprechen. Das verlangt freilich einen Spagat, weil Oper zugleich nicht dem Mainstream und Kommerz unterworfen, programmatisch beliebig oder überhaupt ersetzt werden darf.

Der kulturpolitische Aspekt spitzt sich in Stuttgart insofern zu, als die Staatsoper demnächst umfassend renoviert werden muss und als Ausweichquartier ausgerechnet eben jenes Wagenhallen-Gelände in Stuttgart-Nord beziehen soll, auf dem einige Bands der lokalen Popszene ihre Studios haben. Freie „Subkultur“ wird dann durch staatliche „Hochkultur“ verdrängt. Um diesen Konflikt zu entschärfen und möglichst einvernehmlich zu lösen, braucht es Solidarität zwischen Staatstheater und Popszene. „The Littmann-Sessions“ diente dabei als Good Will-Geste und Werbeveranstaltung für die Umsetzung der Pläne, über die vor dem Opernhaus auch ein poppig beleuchteter Container wie aus dem „Container-Dorf“ der Wagenhallen informiert. Angesichts der bereits vor Maßnahmenbeginn auf sagenhafte eine Milliarde Euro bezifferten Kosten muss die Oper Stuttgart der Öffentlichkeit vermitteln, dass das viele Geld der Breite der Bevölkerung und Musikschaffenden zugutekommt.

Das einst Königlich Württembergische Hoftheater wurde von 1909 bis 1912 am Oberen Schlossgarten als Doppelbau mit großem Haus für Oper sowie kleinerem Schauspielhaus – letzteres im Zweiten Weltkrieg zerstört – errichtet und gilt als Hauptwerk des Münchner Architekten Max Littmann (1862–1931). Neben Privat-, Kur-, Bank-, Geschäfts- und Warenhäusern sowie dem Hofbräuhaus München realisierte Littmann vor allem Theaterbauten: Kammerspiele, Prinzregentheater und Künstlertheater in München, Regentenbau und Theater in Bad Kissingen, Schiller-Theater in Berlin, Nationaltheater Weimar, Landestheater Neustrelitz sowie die Stadttheater in Bozen, Hildesheim und Posen. Der Architekt reformierte den Theaterbau, indem er den Zuschauerraum amphitheatralisch weitete und sanft ansteigen ließ, die Anzahl der Logen reduzierte, möglichst überall für gute Sicht und Akustik sorgte, sowie unkomplizierte Möglichkeiten zur Überdeckelung des Orchestergrabens schuf, damit in der Oper auch Theater und Konzerte stattfinden können.

Bei der Stuttgarter Pop-Gala war die Bühne folglich bis zur ersten Parkettreihe verlängert. Das von manchen als „eine der besten Live-Bands Deutschlands“ gefeierte Heavy Metal-Trio „Die Nerven“ konnte so dem Auditorium bis an die Schmerzgrenze auf den Leib rücken. Das Publikum wurde förmlich abgeschossen mit gleißenden Noise-Salven, knallharten Drum-Attacken, dröhnenden E-Gitarren, grellen Lichtblitzen und farbiger Lightshow. Ein Exzess aus Tempo, Lautstärke, Scratchen, Verzerren und rückhaltlos ausgelebter Lust an Action und Krach. Die extrem physische Performance riss Teile des Publikums zu ausgelassenem Schreien, Stampfen, Klatschen mit. Ansonsten zwangen „The Littmann-Sessions“ im spätfeudalen Prachtbau zum Sitzen. Denn zwischen den starren Stuhlreihen in Parkett und Rängen war ungebremstes Feiern, Tanzen, Toben und Pogo-Pöbeln schlicht unmöglich. An automatisch versenkbare Stuhlreihen hatte der Architekt nicht gedacht. Vielleicht kommt das irgendwann noch?!

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