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Gegenderte Selbstabschaffungspioniere

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Komische Oper Berlin goes Neukölln: Das erste „Schall&Rausch“-Festival war da
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Das erste „Festival für brandneues Musiktheater“ wurde ein gewaltiger Spaß, allerdings aus anderer Perspektive, als sich das Rainer Simon, künstlerischer Leiter von „Schall&Rausch“, gedacht haben mag. Das Marketing der Komischen Oper Berlin hatte super getextet: Im Event-Segment hat „brandneu“ in etwa die Bedeutungskomponente wie „ofenfrisch“ für’s Backgewerbe. Die Anpreisung beinhaltet die Aufforderung zu brandeiligem Verzehr beziehungsweise Genuss, bevor es mit der Frischepracht beziehungsweise der Turboaktualität nur allzu schnell vorbei ist.

Die Absicht des dank Vorgänger-Intendant Barrie Kosky bis in die Fast-Gegenwart perpetuierten Vorzeige-Musiktheaters war edel, lauter, rein. Vom 17. bis 26. Februar 2023 sollte „Schall&Rausch“ hippe und am Stammhaus in der Behrenstraße nicht präsente Werkgenres, Formate und Konzertarten zu neuen Ufern, Quartieren und Publikumsschichten bringen. Ideal dafür: Der Rollberg-Kiez in Neukölln zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße – ganz in der Nähe zur Neuköllner Oper, die mit ihren arrivierten Neuschöpfungen im Eigenbau oder Neubefragungen von mit zu viel Würde gereiftem Musiktheater-Gut in die Jahre kam und stabile Erfolge vorweisen kann. Der Rollberg-Kiez fünf Fußminuten weiter ist dagegen polarisierte Urbanität pur: sündteure Gentrifizierungspaläste hier, Blocks mit abblätternden Fassaden für überwiegend migrantische Mehrgenerationen-Zielgruppen dort. Ein Hochglanz-Rewe mit Riesenparkplatz prunkt neben dem Kunstzentrum KINDL am Puls der Zeit. Für jede*n also etwas dabei.

Natürlich hat sich die Komische-Oper-Kuration etwas gedacht bei ihrer Programmgestaltung und vermeidet die Nähe zu eher massenkompatiblen Events. Der intelligente, intellektuelle und performative Fast-Veteran Schorsch Kamerun sollte die spartenübergreifenden Event-Fans mit einer Uraufführung beglücken. Auf das Podium im Schwuz-Club kamen ausschließlich queer ambitionierte oder von Musicboard Berlin gepushte, das heißt anspruchsvolle oder förderungswürdige Popmusik. Gemischtes Publikum – so der Wunsch – sollte sich via Kultur begegnen, an der Bar und im Garderobenbereich verschwistern oder vielleicht sogar in den etwas dunkleren Hinterräumen vergnügen.

Im Schwuz, wo die Konzerte stiegen, gelang das ansatzweise. Bei den inzwischen für alle nutzbaren Urinalen im WC-Areal sahen sich Kulturarbeitende um, meistens allein. Der Großteil der Promis von A(vantgarde) bis O(per) schaffte es nicht in den Raum, wo das Schwuz-Stammpublikum in ungerührter Distanz zu den ungewöhnlichen Gästen am ersten Samstagabend eine kultige Memory-Performance mit Dragqueen-Moderation goutierte. Im Konzertraum hinten blieb das Chilling im wohltemperierten Bereich. Frenetische Fieber-Eskalationen erreichte man an den ersten drei Abenden „Schall&Rausch“ nicht. In den allerbes­ten und eher sparsam gesetzten Momenten erinnerte das aktuelle Angebot auf der Gig-Bühne an Nächte im SO 36 zu einer Zeit, die längst vergangen ist. Mit einem entscheidenden Unterschied: Heute schneiden Frauen als Dragqueen-Imitatorinnen prinzipiell besser ab im Vergleich zu Männern als Damenimitatoren.

„Diven unter sich“

Malonda hat natürlich recht, wenn sie in ihrer Show „Diven unter sich“ aus queerfeministischen und anti-rassistischen Perspektiven Sprüche-Vollgas gibt und im Bühnen-Boudoir ihre Reize ausspielt. Mit Subtext und Doppel- bis Dreifachbedeutungen natürlich: „Schubladen sind zur Aufbewahrung von Dessous da, nicht um Menschen in sie zu stecken.“ ist die Message Malondas. Für ihr Publikum rauscht Malonda mit großen Hits, etwas Glamour und dünnen Witzen von einer der großen Diven des 20. Jahrhunderts zur anderen. Malonda singt richtig gut, die Perücken sind es auch, die von Olivia Maria Schaaf erarbeiten Gänge und Gesten sowieso. Trotz dunklem Saal und kreisenden Lichtkegeln bleibt die Atmosphäre bis zum Schluss blütenrein. Zum einen liegt es daran, dass sich in der Dramaturgie des doppel-queeren Geschehens jeder sündige Gedanke verflüchtigt oder gar nicht erst aufkommt. Queerness ermög­licht also die Gesellschaftsfähigkeit der Gosse, indem sie deren Sog minimiert. Die Ankündigungen von Julia Jorda Stoppelhaar in der Festivalbroschüre lesen sich auch deshalb so sachlich wie die Gebrauchsanleitung eines Bügeleisens. Malonda, Rita Mermaid und Saint Laurent aber rekonstruieren und performen nicht ein Kabarett-Frauenbild, sondern die Konventionen einer männlichen Travestie. Die Klischees mitsamt Halbstark*innen-Sprüchen kommen nicht mehr vom Bolzplatz, sondern immer häufiger vom Schminktisch und werden beansprucht für ein queer-freudiges Frauen-Setting. Chancen zur Erschließung neuer Publikumsgruppen für die Komische Oper, fast ohne Streuverluste, blieben ungenutzt: Werbekarten für Barrie Koskys „La cage aux folles“-Inszenierung lagen also nicht aus. Ob jemand von den Gästen Malondas jetzt also den Weg ins queer-affinste Opernhaus Berlins findet, sei dahingestellt.

Eine echt große Sause mit mieser Moral wurde der Eröffnungsstreich „Der geheime Charme der Reduktion“ im riesigen Vollgutlager. Schorsch Kamerun hatte in seiner „begehbaren Konzertinstallation“ das Potenzial und Können „lokaler Profis“ optimal eingesetzt – durch Befragungen von Neuköllner Bürger*innen über ihre persönliche Bereitschaft zu konstruktivem Handeln gegen den Klimawandel. Der Richardschor Neukölln war dran, viel Video und Live-Kameras von Kathrin Krottenthaler auch. Mit Headsets, möglichst unter Vermeidung von direkter sprachlicher Kommunikation mit anderen Publikumsgliedern sollten sich Anwesende zwischen den Stationen bewegen. Repräsentanzen fast aller angesagten Neue-Musik-, Avantgarde- und hoher Crossover-Festivals zogen offenherzig, aber auch weitgehend routiniert und überraschungsfrei über die Basisfläche zu den simultanem Geschehnis-Stationen auf den Metalltreppen und Galerien des Vollgutlagers. An Vielfalt von Perspektiven für die überschaubaren Inhalte war kein Mangel.

Diese Show – und es wäre schön, an so etwas wie Ironie der Produktionsleitung Rebecca Undine Schettler und Dramaturgie Christina Runge glauben zu können – ernüchterte in vielem, was mit Erwartungen an die darstellenden Künste als ethische und moralische Vorbildlichkeit zu tun hatte. Warum soll nur ich auf umweltschädliche Kaffee-Pads verzichten, wenn die Konsumier-Massen das nicht tun? Und warum soll ich Treibstoff sparen, wenn mein Beitrag zur Emissionsverminderung bestenfalls verschwindend gering sein kann? So fragte und raunte es von den Screens in die Fläche, textlich verdichtet von der Performerin Annemaaike Bakker. Deutliche Ansage: Dass die Summe von Mini-Optimierungen eine Menge ausmachen könnte, tut nichts zur Sache.

Beim Nachdenken über das Vernommene im musikalischen Gesamtpaket von PC Nackt hilft das Betrachten der Ausstattung von Katja Eichbaum. Und man bekommt den Eindruck: Kunst darf unter dem inszenierten Deckmantel aus unbedarfter Kindlichkeit noch immer fast alles. Also Plastik in rauen Mengen, angefangen bei der Tisch- und (Textil-)Pflanzen-Deko bis zu Tiermasken und­soweiter. „Der diskrete Charme der Reduktion“ verdünnisiert sich zusehends.

Und vor allem galt die Faustregel: Kunst darf nicht schön sein. Künstlerisch wertvoll ist – wie schon oft – nur der Abschied von Kunstfertigkeit. Dazu gehört der laienhaft leiernde Vortrag einer Bachkantate durch den Berufsbass Ivan Turšic und ein niederschwellig schönheitsferner Mahler-Beitrag.

Wir wissen es bereits, dass mangelhafte Ausführung als Kritik am regulären Klassik-Betrieb in ungewöhnlichen Räumen ein selbstreferenzieller Evergreen ist und wahrscheinlich noch lange bleiben wird. In diesem Fall ist der Trend sogar noch schön retro.

Die Dachmarke Komische Oper verhält sich demzufolge wie ein Selbstabschaffungspionier, der sich eine Laus in den eigenen Pelz setzt – „brandneu“ und „ofenfrisch“. Diese ofenfrisch brandneue Festival-Speisung für den Rollberg-Kiez ist allerdings schon zum Premieren-Zeitpunkt etwas zäh und staubtrocken. Auf die nächste Ausgabe von „Schall&Rausch“ darf man sich also freuen.

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