Die hauseigene Einrichtung des durch seine thematischen Bezüge zur Enhancement-Diskussion topaktuellen Longsellers „A Clockwork Orange“ nach Anthony Burgess mit Songs von Rammstein hat es in sich. Diese dramatische Revue fetzt in zwei Stunden alles nieder und fährt mit Nahuel Häfliger einen Hauptdarsteller auf, der mehr genussvolles Grauen als beklemmenden Schrecken und Mitleid in den Saal schleudert. Das phänomenale Ensemble beherrscht Spiel, Musik und Tanz – ein hochrangiger Abend mit einer diskussionswürdigen Funktionalisierung von Musik und einer nicht vorhersehbaren Akzentverschiebung.
Im Programmheft legitimiert man vorsichtshalber die Entscheidung für die Musik von Rammstein, deren Gitarrist Paul Landers seit einigen Tagen ein neues Album der in der Beurteilung zwischen dem Vorwurf totalitärer Brutalität und deren plausibler ästhetischer Überwindung schwankenden Band ankündigt: „Rammstein unterlaufen die totalitäre Ideologie nicht durch ironische Distanz, sondern durch Konfrontation mit der obszönen Körperlichkeit der ihr zugehörigen Rituale und machen sie damit unschädlich. (Slavoj Žižek)“
In Konzerten gilt das für die die Parameter Musik, Szene, Image und Publikumsverhalten. Aber vielschichtiger und komplizierter wird die Differenzierung von ästhetischen Mitteln und moralischer Profilierung, wenn eine derart charismatisch Gewaltimpulse ausagierende Musik wie diejenige von Rammstein auf einen Stoff trifft wie „A Clockwork Orange“ nach Anthony Burgess: Der Roman thematisiert, wie in einer nahen Zukunft Gewaltprävention durch Enhancement, also als Eingriff in die menschliche Selbstbestimmung und ethische Wahlfreiheit funktioniert. Der Aggressor und brutale Täter Alex wird durch eine medizinisch-neurologisch-psychatrische „Korrektur“ unfähig zur Selbstwehr und deshalb von den Mitmenschen nicht mehr als ihresgleichen betrachtet.
Dass die Neuproduktion des Deutschen Nationaltheaters Weimar absolut glänzend, faszinierend, mitreißend und schlichtweg toll geraten ist, kann man nicht in Frage stellen. Mitglieder des Schauspielensembles offenbaren sich in der Band als Multitalente, die musikalische Leitung und Einstudierung von Tom Götze lässt keine Wünsche offen. Aufgrund der hohen Sprechkultur scheint es, als sei die Diktion der Songs im DNT fast besser als die der Originalinterpreten. Diesmal wirklich sinnfällige Videos (Bahadir Hamdemir) und Ton (Christian Annemüller, Sebastian Reuter) gehen weit über das hinaus, was man bei diesen an Subventionstheatern manchmal etwas stiefmütterlich behandelten Positionen mitbekommt. Generalintendant Hasko Weber verstärkt am Regiepult die in Stanley Kubricks Kult-Film angedeuteten Klassiker-Andeutungen und zeigt so, dass die jüngeren internationalen Stoffe genauso wie die einheimischen Hausgötter auf die Weimarer Kulturfläche gehören.
Ohne Limits freie Bahn
Aber „A Clockwork Orange“ ist kein Schauspiel nur. Hasko Weber lässt den Rahmen des Sprechtheaters zur dramatischen Revue sprengen, wendet die zahlreichen Gewaltszenen Richtung Grand Guignol, macht mit den gruftig-rattig-‚abgespaceten‘ Kostümen von Sarah Antonia Rung das von den Songs dominierte und penetrierte Dialogszenarium humorfrei zur Geisterbahn und lässt der intelligenten Choreografie von Shuten Inada ohne Limits freie Bahn. Richtig: Als Tanztheater muss sich dieses Ensemble ebenso wenig verstecken wie als Band. Deshalb sind die körperlichen Ballungs- und Krisengebiete zwischen dem Protagonisten Alex und dem seinen Quotenvorgaben ausgelieferten Sozialbetreuer Dr. Deltoid (Marcus Horn) Höhepunkte noch knapp vor den schnellen Rollenwechseln der anderen Gang- und Band-Mitglieder in immer wieder andere karikierend überspitzte Episodenfiguren.
Die Dialektik gebietet es, dass man aus den Rollen der Stipendiaten des Weiterbildungsprogramms „Afghan Artists at Risk“ (Gulab Jan Bamik, Abdul Mahfoz Nejrabi und Sulaiman Sohrab Salem), die im Stück Opfer und Täter sind, äußerst wirkungsvolle Schimpfworte lernt – das sind nicht wenige. Einen echten Star hat diese Produktion als Sänger, Performer, Tänzer, Screen-Löwe und Opferlamm: Nahuel Häfliger gibt für die Figur des Alex alles. Das geht unter die Haut, greift an die Nieren, schlägt auf den Magen, trommelt in den Eingeweiden und packt das Herz. Ein totaler Darsteller für ein turbo-totales Stück.
Anders als der Film-Alex Malcolm McDowell, der zwar immer faszinierend, aber erst nach der Manipulation zum anti-aggressiven Wrack bemitleidenswert wird und in seinem Vorleben als Schläger und Vergewaltiger vor allem schrecklich ist, zeigt sich Nahuel Häfliger schon in der ersten Hälfte der pausenlosen zwei Stunden eher mit sympathischer als bedrohlicher Verrücktheit. Die Musik verdoppelt ebenso hypnotisch die Faszinationskraft seine und auch die kriminellen Energien seiner Gang. Das ist hier, in einer mit allen dramaturgischen Kritik- und Analyseinstrumenten vorbildlich agierenden Produktion, ein bedenklich schroffer Akzent: Ästhetische Brechungen treiben keine Keile in die Kritik an sinnlosen brutalen Ausschreitungen und die von Anthony Burgess thematisierte Verhinderung dieser durch ethisch fragwürdige Eingriffe. Individuelle, soziale und ideologische Gewalt wird hier, obwohl alle theatralen Mittel dagegen bzw. analytisch eingesetzt werden, als sinnliche Verführung und Faszinosum in Szene gesetzt. Bleibt nur noch als letzte Möglichkeit: Soll diese Verführbarkeit durch die persönliche Wahrnehmung hier bewusst werden? Dass die Weimarer Neuproduktion eines über 50 Jahre alten Longsellers ästhetische und wirkungsorientierte Fragen aufwirft, ist zwar ein weiteres indirektes Plus für das DNT, aber auch eine harte Nuss für die Theaterpädagogen.
- Mit Gulab Jan Bamik, Nahuel Häfliger, Bastian Heidenreich, Marcus Horn, Abdul Mahfoz Nejrabi, Sulaiman Sohrab Salem, Lutz Salzmann, Isabel Tetzner, Dascha Trautwein, Anna Windmüller, Tom Götze, Lars Kutschke - Hasko Weber (Regie), Philip Rubner (Bühne und Kostüme), Sarah Antonia Rung (Kostüme), Tom Götze (Musikalische Leitung), Shuten Inada (Choreografie), Bahadir Hamdemir (Video), Eva Bormann (Dramaturgie)
- Wieder am 05 | 10 | 18 // 19.30 Uhr - 13 | 10 | 18 // 19.30 Uhr - 21 | 10 | 18 // 18.00 Uhr - 02 | 11 | 18 // 19.30 Uhr - 16 | 11 | 18 // 19.30 Uhr - 01 | 12 | 18 // 19.30 Uhr - 13 | 12 | 18 // 19.30 Uhr - 29 | 12 | 18 // 19.30 Uhr - 26 | 01 | 19 // 19.30 Uhr