Ein fröhlicher Weltuntergang sollte es werden: Die Bühnendekoration zertrümmert, sämtliche Akteure (bis auf das obligatorische Liebespaar Tenor-Sopran) über die Hinterbühne entschwunden und das Orchester dreht im vierfachen Forte „con tutta forza“ nochmal so richtig auf! Doch plötzlich triumphiert ER: Gottliebchen, das infantile Pseudo-Genie, ein „Satansbraten“ der besonderen Art, den nicht einmal der Teufel mit sich in die Hölle nehmen will. Gottliebchen ist ein geistig unterentwickeltes, androgynes Kindwesen, das einerseits permanent gequält, andererseits der Öffentlichkeit als „kommendes National-Genie“ verkauft wird. Drahtzieher ist ein dem Alkohol verfallener Schulmeister, dem seine „Entdeckung“ jedoch letztlich entgleitet. Denn am Ende der Oper ist es Gottliebchen, der die verlogen-schöne Idylle des Provinznestes Lopsbrunn im Handumdrehen zum Einstürzen bringt und sich mit einem bösartig-gekreischten „Amen“ verabschiedet.
Vorhang – Licht – Applaus. Dem Publikum aber bleibt das Lachen buchstäblich im Halse stecken. Hatte man es nicht schon längst geahnt? Das Böse, es ist allgegenwärtig und mitten unter uns: Geistlos, gottlos, durchtrieben und brutal! Dem sei nur mit Lachen eins auszuwischen, das jedenfalls meint Komponist Detlef Glanert.
Glanert, Jahrgang 1960, hat sich frühzeitig mit Kompositionen für das Musiktheater auseinander gesetzt. Den entscheidenden Impuls gab Hans Werner Henze, der ihm auch das kompositorische Rüstzeug vermittelte. Als Glanert dann 1998 vom Opernhaus Halle den Auftrag erhielt, ein neues Werk für das hauseigene Ensemble zu schreiben, da entschied er sich sofort für das komische Genre, wobei ihm die scheinbare Unmodernität des Vorhabens zusätzlichen Anreiz bot. Entgegen allen Trends hatte er nämlich schon seit Jahren über die Musik zu einer opera buffa nachgedacht. Seine Wahl fiel auf Christian Dietrich Grabbes Lustspiel „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“. Ein Werk, das auf Grund zahlreicher gesellschafts-kritischer Anspielungen sowie verbaler Angriffe auf Zeitgenossen des Dichters erst nach dem Tod Grabbes (er starb am 12. September 1836) zur Uraufführung kam. „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ ist vermutlich auch das einzige Stück Grabbes, das heute gelegentlich noch inszeniert wird. Jörg W. Gronius unterzog es einer gründlichen Revision: Er komprimierte, aktualisierte und erstellte gemeinsam mit dem Komponisten das Opern-Libretto. Der Plot ist schnell erzählt: Da die Hölle einer gründlichen Reinigung unterzogen wird, verschwindet der Teufel lieber auf die Erde. Dort versuchen vier Naturhistoriker vergeblich, seine wahre Identität zu lüften, also wird der Teufel kurzerhand als Oberkirchenrat (!) in das Kleinfürstentum vom Lopsbrunn eingeführt. In Lopsbrunn wiederum jubelt der Schulmeister gerade der Gesellschaft sein „neues National-Genie“ Gottliebchen unter. Allein – das Interesse der anwesenden Herren gilt in erster Linie der attraktiven Baronesse Liddy. Vier Männer, die um die Gunst einer Dame buhlen, das bietet dem Teufel eine wunderbare Vorlage, nach Herzenslust zu intrigieren und dabei auch allerlei menschliche Bosheiten bloßzustellen.
Wie schon bei anderen Bühnenwerken, so erprobte Glanert auch diesmal Teile des musikalischen Materials der Oper zuvor im konzertanten Bereich. So in seinem Klavierkonzert von 1994, in dem er mit „Musik, Figuren, Farben und Formen jongliert und dabei bereits an bestimmte Szenen des Stückes gedacht“ habe. Das von ihm auf diese Weise „betastete und durchgewalkte Material“ ließ sich im Nachhinein wunderbar für die Zwecke des Opernprojektes umformen, so der Komponist. Zunächst aber stellte er sich ganz grundsätzliche Fragen. Zum Beispiel die, wie man heute eine moderne komische Oper schreibt und welches die adäquaten Mittel dafür sein können. Glanert vertritt die Auffassung, dass das Komische einer gewissen Schnelligkeit bedarf, das heißt er setzte zunächst einmal auf Tempo: Die Szenen sind knapp gehalten, abwechslungsreich instrumentiert und variieren im Hinblick auf die sängerische Besetzung (zahlreiche Ensembleszenen inklusive). Das ermöglicht einen straffen Einstieg ins Stück, hat „drive“ und einen hohen Informationswert, da Glanert den rezitativischen Parlando-Ton bevorzugt und bis auf wenige Szenen musikalisch für Transparenz, somit auch für Textverständlichkeit sorgt. Aber im Verlauf des 1. Aktes geht diese Leichtigkeit zusehends verloren, macht sich eine gewisse hektische Atemlosigkeit breit. Es ist, als würde die uns alltäglich umgebende Informationsflut auf die Opernbühne transformiert, und man vermisst schmerzlich den einen oder anderen Ruhepunkt. Das Finale I schließlich läuft vor allem dramaturgisch völlig aus dem Ruder: Es ist zu lang, zu kompakt und zu „dick“ instrumentiert.
Dennoch: Detlef Glanert ist ein Komponist, der offenbar spielerisch mit ganz unterschiedlichen Formen wie Passacaglia, Fuge und Kanon arbeitet, sich virtuos verschiedener musikalischer Idiome bedient und die Figuren klar zu charakterisieren vermag. Jede Rolle hat eine eigene klangliche Aura, indem ihr bestimmte Intervalle und Instrumente zugeordnet sind. Der Baronesse zum Beispiel die Oboe, dem Teufel die Orgel und Gottliebchen die Blockflöte sowie Büchsen und Pappkisten (eine Geräuschebene, die allerdings kaum zu identifizieren ist). Und doch wirken die Figuren merkwürdig blass, bleibt musikalisch wenig im Gedächtnis haften. Einzig Altus Axel Köhler, der mittels voice transformer als Teufel mit „gespaltener Zunge“ singt, schafft es, die (zugegeben dankbare) Rolle des Bösen schärfer zu profilieren. Das Gros des Ensembles aber schlägt sich wacker zwischen Karikatur beziehungsweise bewusst überhöhten Rollen-Klischees und wenig „sängerischem Futter“. Keine einfache Sache, dieser musikalischen Vorlage szenisch zu begegnen. Regisseur Fred Berndt gibt dem leicht überdrehten Spiel, was es braucht, indem er das hohe musikalische Tempo aufgreift und szenisch benutzt. Er siedelt die Inszenierung in der Entstehungszeit des Grabbe-Stückes an, wobei das Bühnenbild eine Mischung aus Biedermeier und surrealistischen Elementen bietet. Dass das Initial „G“ mehrfach in der Dekoration auftaucht, soll wohl nachdrücklich auf die „Dreieinigkeit“ (?) von Grabbe-Glanert-Gronius verweisen. Deren im Proszenium verewigte Konterfeis jedenfalls betrachten das Spektakel zwar allabendlich stumm, doch offenbar mit Vergnügen.