Seit nunmehr zehn Jahren bemüht sich das Zafraan Ensemble mit unterschiedlichsten Projekten darum, die hermetische Abgeschlossenheit der Neue-Musik-Szene aufzubrechen. Die Überzeugung, man müsse lediglich die passenden Formate finden, um die Annäherung an zeitgenössische Musik zu erleichtern und ein neues Publikum zu erschließen, prägte auch den zweiten Teil des „Match Cut Festivals“, der am 3. Oktober 2019 in Gebäude der Berliner Volksbühne stattfand. Ein Erfahrungsbericht von Stefan Drees.
Sucht man nach einem Alleinstellungsmerkmal, mit dem sich das in Berlin ansässige Zafraan Ensemble von anderen Neue-Musik-Formationen unterscheidet, so stößt man rasch auf die seit einigen Jahren stark intensivierte Zusammenarbeit mit Musikerinnen und Musikern unterschiedlichster Genres. Als in dieser Hinsicht wohl ambitioniertestes Projekt des Ensembles kann das „Match Cut Festival“ gelten, dessen erste Ausgabe 2017 in der Musikbrauerei Berlin stattfand. Während man sich seinerzeit als Kooperationspartner die Progrockband Squintaloo und das Andromeda Mega Express Orchestra ausgesucht hatte, traf das Zafraan Ensemble nun am 3. Oktober 2019 in den Räumlichkeiten der Volksbühne Berlin auf das Babylon Orchestra, eine Formation für urbane orientalische Musik (mit Mitwirkenden aus Syrien, Iran, Irak, Israel, Russland, Italien, Frankreich, Kurdistan und Deutschland), sowie auf Sollmann & Gürtler, das elektroakustische Duo von DJ Phillip Sollmann (aka Efdemin) und John Gürtler.
Mut zu stilistischen Kontrasten
Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen zwei Konzerte im großen Theatersaal, in denen, teils von Titus Engel geleitet, das Zafraan Ensemble jeweils gemeinsam mit einer der beiden anderen Formationen auftrat. Dabei folgten beide Konzerte demselben Prinzip: Alternierend spielten die beteiligten Klangkörper Stücke aus ihrem eigenen Repertoire, während die eigens für den Abend entstandenen Auftragswerke oder Bearbeitungen bereits bestehender Stücke gemeinsam musiziert wurden. Dass hier nicht nur unterschiedliche Stilistiken, sondern auch grundverschiedene Musizierpraktiken aufeinanderprallten, konnte man vor allem im ersten Konzert erleben: Die enormen Stärken des Babylon Orchestra zeigten sich in der lebendigen Verknüpfung von komponierten, rhythmisch prägnanten Tutti-Grundgerüsten voller melodischer Orientalismen und ausgedehnten, vom Jazz inspirierten Improvisationspassagen. In den präsentierten Stücken von Maias Alymani, Damir Bačikin und Mischa Tangian kamen auf diese Weise nicht nur gängige Bigband-Instrumente wie Trompete oder Posaune zur Geltung, sondern rückten auch vorderasiatische Klangerzeuger wie die Laute Oud, die Flöte Ney oder das Streichinstrument Kamanche in den Vordergrund.
Die alternierend hierzu vom Zafraan Ensemble beigesteuerten, unterschiedlich besetzten Kammermusik- und Ensemblewerke aus der Feder von Anahita Abbasi, Samir Odeh-Tamimi und Sven Daigger setzten sich zwar aufgrund weitaus strengerer Diktion und jeweils eigener Klanglichkeit stark von den orchestralen Beiträgen ab, ließen sich aber dennoch aufgrund ihres Melos mitunter auf die so ganz andere Musik beziehen. Einer der diesbezüglich stärksten Momente ergab sich bei der Aufeinanderfolge von Bačikins farbenreicher Komposition „Babylon Paranoia“ und dem „Solo für Violine“ von Odeh-Tamimi, das die Zafraan-Geigerin Emmanuelle Bernard mit phänomenaler Präsenz vortrug, bevor das Orchester wieder die Initiative übernahm. In den beiden Auftragskompositionen – Mischa Tangians dreisätziger „Tahar Ben Jelloun Suite“ und Sinem Altans „MED-CEZIR“ – fanden sich die Mitglieder beider Formationen schließlich im charakteristischen Babylon-Orchestra-Tonfall zusammen.
Einheitlicher Spannungsbogen
Während im ersten Konzert die Kontraste regierten, hinterließ das Zusammentreffen von Zafraan Ensemble und Sollmann & Gürtler einen weitaus einheitlicheren Eindruck. Dies verdankte sich auch der klugen Programmwahl: Zunächst überführte das Zafraan Ensemble den ersten Teil aus Fausto Romitellis „Professor Bad Trip“ nahtlos in Christophe Bertrands „La Chute du Rouge“. Von hier aus bestimmten Sollmann & Gürtler mit ihren Titeln „Cycle I“ und „Cycle II“ das Konzert, allerdings interpoliert von Gürtlers beiden Formationen anvertrauter Komposition „Redeem. Release“. Den Abschluss bildeten dann mit Sollmanns „Offset“ und der Bearbeitung des Titels „Noisefloor“ zwei weitere gemeinsam vorgetragene Stücke. Dass trotz der Besetzungs- und Formationswechsel alle Stücke um die Auseinandersetzung mit der Verbindung von akustischen und elektronischen Elementen sowie – eng damit verknüpft – um die Erkundung feiner Veränderungen von Harmonik und Klangfarbe kreisten, verlieh dem Konzert einen von Anfang bis Ende reichenden Spannungsbogen. Zu diesem trug auch das durchdachte Bühnenkonzept von Julia Rommel bei – eine Kombination von Projektionen aus ständig sich wandelnden Muster im Bühnenhintergrund mit einer bis in feinste Farbschattierungen reichenden Beleuchtung –, das die Einheitlichkeit dieses zweiten Konzerts weitaus stärker unterstrich als die Begegnung mit dem Babylon Orchestra.
Jenseits der beiden Konzerte gab es für das Publikum eine ganze Reihe weiterer Gelegenheiten, zur Bereicherung des Erfahrungsschatzes. So stellten sich zwischendurch im Roten Salon der Volksbühne einzelne Musikerinnen und Musiker von Zafraan Ensemble und Babylon Orchestra mit klein besetzten Kammermusikwerken (u. a. von Giacinto Scelsi, Iannis Xenakis und Mohannad Nasser) vor, während auf der anderen Seite des Hauses der Grüne Salon durch Präsentation von Éliane Radigues knapp einstündiger elektroakustische Komposition „L’Île Re-sonante“ zum Ruhe- und Hörraum wurde.
Partizipation
Hinter den bislang zwei Ausgaben des „Match Cut Festival“ steckt ein ernst zu nehmender Versuch, die hermetische Abgeschlossenheit der Neue-Musik-Szene aufzubrechen und für zunehmende Durchlässigkeit an den Rändern zu sorgen. Die Idee, dies durch Gegenüberstellung und Miteinander unterschiedlicher Musik- und Musizierstile zu erreichen, um dadurch neue Zuhörerkreise anzusprechen, schien zumindest an diesem Abend ausgesprochen gut zu funktionieren: Zwar konnte man beim Vergleich des Publikum beider großer Konzerte eine gewisse Fluktuation erkennen, die sicherlich aus den jeweils anders gelagerten musikalischen Interessen resultierte; dennoch nutzten erstaunlich viele Leute die Gelegenheit, das ihnen bislang weniger Geläufige kennenzulernen und neben den Hauptveranstaltungen auch die Salons zu frequentieren. Insofern darf man dem Zafraan Ensemble für diese spannende Initiative zur Grenzüberschreitung dankbar sein.
Dass es jedoch nicht allein darum ging, eine Möglichkeit zu schaffen, dem Aufeinandertreffen kontrastierender Musikstile in der Live-Situation beizuwohnen, sondern dass die Initiatoren zugleich auch der partizipative Aspekt großer Bedeutung einräumten, verlieh der Veranstaltung einen ganz besonderen Akzent. Hilfestellung hierbei leistete die internetbasierte „Match Cut Map“, eine App, die von dem Game-Designer Sebastian Quack, Mitbegründer des Netzwerks Invisible Playground, entwickelt und zur Verfügung gestellt wurde. Mit ihr wurde das Publikum dazu zu ermuntert, anonymisierte Informationen über die eigenen Hörbiografien – prägende Begegnungen mit bestimmter Musik oder einzelnen Künstlern – in eine Datenbank einzuspeisen und anschließend auf einer überdimensionierten Landkarte im Foyer anzeigen zu lassen. Es war überraschend, zu sehen, wie sich so im Laufe des Abends immer mehr Daten zusammenfanden, wie bestimmte Orte zu Zentren wurden, andere hingegen isoliert blieben, und wie sich plötzlich in bestimmten Zeiträumen oder um einzelne Namen herum Knoten bildeten, die auf ähnliche Erfahrungen hindeuteten.
Diese Materialsammlung ließ sich auch als Ausgangspunkt für Publikumsinteraktionen heranziehen: Durch Benutzung eines stationären Rechners konnte man einzelne Punkte, Komponistennamen oder Jahreszahlen anklicken und sich die Orts- und Zeitverläufe der zugehörigen Hörbiografien anschauen. Man konnte aber auch mit anderen Besuchern interagieren und vergleichen, wo sich, ausgehend von den persönlichen Vorlieben, ähnliche oder auch völlig andere Hörerfahrungen und musikalische Prägungen zeigten. Auf diese Weise entstand ein Aktionsraum für den Erfahrungsaustausch, der einen manchmal durchaus ins Grübeln bringen konnte und mit dem Vorsatz in die Nacht entließ, sich doch auch mal diese oder jene Aufnahme anzuhören. Wer von alldem noch nicht genug hatte, der konnte schließlich noch miterleben, wie sich DJ Grégoire Simon von 23 Uhr bis in die frühen Morgenstunden hinein auf der „Match Cut Party“ im Roten Salon vom Netz der Hörbiografien anregen ließ, um der dort genannten Musik im Remix ganz andere Facetten abzugewinnen.