Überbevölkerung, Umweltvergiftung, Klimakatastrophe … Diese und andere Arten der menschgemachten Vernichtung der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten sollten als Einwände gegen leichtfertige Übertragungen der Darwin’schen Evolutionstheorie auf anthropologische Zivilisations- und Kulturleistungen eigentlich genügen. Der Mensch ist eben nicht mit monokausalem Biologismus auf bloße Arterhaltung zu reduzieren.
Dennoch werden inzwischen selbst Spitzenleistungen des Homo Sapiens Sapiens wie Kunst und Musik von Hirnforschern, Philosophen und selbst Musikwissenschaftlern zuweilen als Überlebensstrategien der Gattung zu erklären versucht. Weil es für unsere Vorfahren wichtig war, von einem Geräusch im Busch auf den möglicherweise gleich hervorbrechenden Säbelzahntiger zu schließen, trainieren wir noch heute – so Musikpsychologe David Huron – an Musik unseren „Zukunftssinn“. Und weil wir beruhigt und zufrieden sind, wenn unsere Vorhersagen eintreffen, muss uns die Neue Musik, wo alles unerwartbar ist – so die Schlussfolgerung –, zwangsläufig frustrieren. Am selben Wochenende, an dem die Neue Musik in Donaueschingen eine ihrer jährlichen Hochzeiten feierte, diskutierte man beim Zeitklänge-Festival in Kempten (Allgäu) über die Frage, warum Schönbergs Zwölftonserien ebenso wenig Eingang in die populäre Kultur gefunden haben wie Stockhausens elektronischen Experimente oder Pierre Henrys Geräuschcollagen.
Abgesehen davon, dass Stockhausen und die musique concrète längst von der Pop- und Electronica-Szene für sich entdeckt wurden, sind unter dem Titel „Zu schräg für unser Gehirn“ weitere gepflegte Vorurteile zu lesen. Wieder einmal ist die „Neue Musik“ intellektuell, lustfrei und nur aus „Zwölftonreihen“ zusammengesetzt, die ohnehin keiner hören könne. Und da man gerade dabei ist, wird in einem Aufwasch gleich noch mit anderem abgerechnet: etwa mit dem luziferischen Adorno, dem alles Schöne und Gefällige verhasst gewesen sei, und dem Konzertsaal als Gefängnis, in dem der Zuhörer über Stunden regungslos und stumm an seinen Sitz gefesselt sei, während andere das Programm bestimmen. Das alles ist dumm genug. Schlimm aber wird es dadurch, dass der in Sachen Neuer Musik offenbar unwissende Christoph Drösser seinen Unsinn nicht in irgendeinem Chatroom für frustrierte Konzertbesucher ablässt, sondern ausgerechnet unter der Rubrik „Wissen“ in der Wochenzeitung DIE ZEIT.
Angeblich „einsam alt geworden“ ist die Neue Musik in Wirklichkeit quicklebendig. An immer mehr Orten erfreut sie sich immer stärkeren Zuspruchs. So ist im November fast jeden Tag woanders mit einer Uraufführung eine andere Widerlegung dessen zu erleben, was manche gerne für Neue Musik halten: am 2. November von Sven-Ingo Koch im WDR-Funkhaus Köln, am 3. von Wolfgang-Andreas Schultz in der Paulskirche Schwerin, am 4. von Manfred Trojahn im Gewandhaus Leipzig, am 5. von Kira Maidenberg, Maximilian Guth und Caspar de Gelmini im Neuen Theater Halle und von Valentin Marti, Ole-Henrik Moe in der Tonhalle Zürich, am 8. November von Michael Quell in der Elisabeth Schneider Stiftung in Freiburg …
Weitere Uraufführungen
15.11.: Wolfgang Rihm, ET LUX für Streichquartett und Chor, Kölner Philharmonie
16.11.: Alois Bröder, Signale 7 und 8, Staatstheater Mainz
19.–21.11.: Franz Martin Olbrisch, Klaus Ospald, Friedrich Cerha u.a., neue Werke, Musik der Zeit, WDR Köln
26.11.: Oliver Frick und Bernd Asmus, neue Werke, Treffpunkt Rotebühlplatz Stuttgart
29.11.: Jeffrey Ching, Das Waisenkind, Theater Erfurt
30.11.: Tobias PM Schneid, Concerto für Oboe und Orchester, Gelsenkirchen