Über fünfzig Opern hat Georg Philipp Telemann geschrieben, davon ca. 25 in seiner Zeit als Direktor des Hamburger Theaters am Gänsemarkt (1721-1738). Die meisten sind verschollen, wenige fragmentarisch erhalten und von anderen gibt es nur noch Arien. Es ist also gar nicht klar, wie sein 1736 uraufgeführter „Orpheus“ aussah, den es in diesem Jahr gleich zweimal gab: die konzertante Uraufführung im Frühjahr 1736 hieß „Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus“ und die ein halbes Jahr später szenisch aufgeführte Fassung „Die rachbegierige Liebe oder Orasia“.
Orasia ist eine von Telemann erfundene Figur, die das in der Hamburger Aufführung an der Opera stabile auch sagt. „Ich bin eine Kunstfigur“ informiert sie uns und tritt in verschiedenen Formen auf. Sie ist Orpheus verfallen und betreibt ihre entsprechend rachsüchtigen und intriganten Geschäfte.
Damit sind wir auch im Stil der in bestem Sinne gewöhnungsbedürftigen Inszenierung, die uns konsequent vom Verstehenwollen abhält: denn es ist nicht eine Interpretation des antiken Orpheus-Mythos, seit über 400 Jahren durch Peri und Monteverdi auch präsent in der Geschichte der Musik. Sondern die Regisseurinnen Franziska Kronforth und Julia Lwowski versuchen eine so derart andere Präsentation von Musiktheater, dass man nur etwas davon hat, wenn man das Verstehenwollen ganz schnell aufgibt: „Sie bemühen sich sehr darum, zu verstehen, was vor sich geht. Das ist ein schwerer Fehler“ dieser Satz von Jean Cocteau steht denn auch auf der Titelseite des Programmheftes.
Was also machen die beiden an der Hanns Eisler Hochschule in Berlin ausgebildeten jungen Damen, die sich zusammen „Lwowski.Kronfoth.MusiktheaterKollektiv“ nennen? Sie mischen die DarstellerInnen und das Publikum von Anfang an: die tote Eurydike wird hereingefahren, MusikerInnen um sie herum. Ein großer Teil des Publikums macht gleich mit: wir bekommen einen grünen Zweig, den die meisten auf die Tote legen. Ein Bühnenbild (Christina Schmitt) gibt es in herkömmlichem Sinne nicht: vorne das kleine Orchester hinter einem Fadenvorhang, rechts und links davon große Regale, oben eine Galerie, links ein offener Raum, hinter uns ein Podium. Der glänzende Bariton Zak Kariithi zeigt sich als Orpheus in Frauenkleidern. Einer, der aussieht wie der stumme Harpo von den Marx Brothers, filmt alles und lässt die Bilder an den Seiten wieder erscheinen (Videos von Martin Mallon), die Nymphe Cephisa erscheint ironisiert als super spießige Bürgerin (Marta Swiderska), Eurydice (Maria Chabounia) ist gerne freiwillig in der Unterwelt und will eigentlich auch ihren Orpheus dahinkriegen, zwei Plutos (Stanislav Sergeev und Bruno Vargas) ballern stimmgewaltig in ihrer Unterwelt herum und lassen sich gerne von Orpheus zum Tanz verführen. Es ist schwer was los zwischen oben und unten, enträtseln kann man das alles einschließlich der Kostüme kaum, weil zudem französisch, italienisch und deutsch unverständlich gesungen wird.
Ein richtiges Kalb steht für die Opferorgien der dionysischen Feste, die Tod und Leben als eine Einheit sehen wollen, zur Verfügung, wo Orpheus todessüchtig hingerät, nachdem er Eurydice verloren hat. Eurydice und Orasia legen Brote in Form eines Menschen und Mänaden zerstückeln ihn, nachdem Eurydice vorher mit einer Stimmgabel auf den großen Sänger eingestochen hat und hinterher sich umbringt (dies als erschütterndes Schlussbild über ein Video in einer modernen Großstadt zu sehen).
Mit diesen Bildern haben die Regisseurinnen der ohnehin absurden Oper noch einen draufgesetzt und es bleibt der Theaterspaß in allen Facetten bis hin zum Klamauk. Die Komik zwischen Welt und Unterwelt, die Absurditäten zwischen Liebe und Hass, die Frage nach der Macht des Gesanges, die Frage nach der Freiheit und der Liebe, in allen unverständlichen Bildern sind die Fragen doch deutlich präsent. Wir verstehen die Liebe nicht und nicht den Tod, warum sollen wir diese Inszenierung verstehen? Muss nicht sein und es wird wunderbar gesungen und der Musik immer ein fein herausgearbeiteter Stellenwert verschafft. Ob diese Art von genreübergreifenden und grenzzerstörendem Theater neue Zuhörer schafft, muss die Zeit zeigen. Das Premierenpublikum hatte viel Spaß und geizte nicht mit Beifall für den Abend des Internationalen Opernstudios.
Vielleicht sind Kronfoth und Lwowski mit diesem Konzept auch nahe dran an dem, was Telemann wollte: Musik für die Bürger und einen musikalischen Universalstil wollte er schaffen, der den deutschen, den italienischen und den französischen Musikstil vereint: so ist seine Musik ebenso heterogen wie sie sich bewusst an alle richtet. Der Dirigent Volker Krafft macht das mit den MusikerInnen der Orchesterakademie des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg wunderbar spritzig, animiert und kenntnisreich in der barocken Sprache, ohne allerdings ein wirkliches Niveau der historischen Aufführungspraxis zu erreichen. Aber diese Art von informiertem Kompromiss, der inzwischen Standard an nahezu allen Stadttheatern ist, kann man akzeptieren.
- Die nächsten Aufführungen: 12., 13., 15. und 16. Juli, (um 20:00)