Zur Happy New Ears-Reihe 2020/2021, einer Kooperation von Ensemble Modern, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt sowie Oper Frankfurt, kamen Simon Steen-Andersen und der Schlagzeuger Håkon Stene für ein Porträt-Konzert mit Videostream. Die komponierten Reibungen zwischen der Technik und dem Ensemble Modern wären im physischen Direktkontakt weitaus eindrucksvoller.
Als „Musiker, der kein Instrument spielt.“ hinterfragt und definiert sich der examinierte Schlagzeuger Håkon Stene bei „Black Box Music“. Seit 2002 arbeitet Stene mit dem dänischen Komponisten und Perfomance-Künstler Simon Steen-Andersen zusammen. In dieser künstlerischen Partnerschaft ist die 2012 in Darmstadt uraufgeführte und danach für Berlin, Schwaz und Stuttgart änderungsfreudig verwandelte „Black Box Music“ (for percussion solo, amplified box, 15 players and video) ein Dreh- und Angelpunkt. Stene prägt alle Varianten maßgeblich - und beeinflusst damit die Geschichte dieser alles andere als leeren ohne leisen Black Box, ohne welche die Aufführung der Partitur sinnlos wäre. Die Box selbst ist Geräusch-, Tonproduktions- und Projektionsmaterial. Und die „Black Box Music“ ist durch diese praktische, damit auch ästhetische Veränderbarkeit weitaus strapazierfähiger als Stenes verschleißanfällige, leicht zu beschaffende und ein vielstimmiges Geräuschrepertoire ermöglichende Materialien.
Zwangsläufig wurde das am 19. März ohne Publikum aufgezeichnete Konzert im Zyklus „Happy New Ears“ zu einer digitalen Produktion. Gewiss ist deren Verbreitungspotenzial zu begrüßen. Aber andererseits verliert das aus den Elementen Live-Orchester, Elektronik und Performanz gespeiste Ereignis – gemessen an der vom Publikum geforderten Kontrastschärfe durch Erraten, Erleben und Erspüren – im Videostream empfindlich. Eine entscheidende Herausforderung von Simon-Andersens Stücks ist nämlich das Erkennen der impulsiv-rezeptorischen Schnittstellen zwischen menschlich-vegetativer, haptisch-technischer und ‚fertiger‘ Tonwiedergabe sowie die Frage, welche dieser Wiedergabearten die Aktionsimpulse auslöst. Am Endgerät fehlen die dafür bedeutsamen Raum-Effekte, deshalb bleibt das akustische Erkenntnisvolumen reduziert.
Das Nachgespräch mit stehen-Andersen und Stene macht ästhetischen und analytischen Appetit auf genau das, was digital nur an wenigen Stellen erlebt werden konnte.
Natürlich sind die projizierten Hände mit den sich irregulär wiederholenden Dirigierzeichen, und Gesten, die denen des Knobelns große Ähnlichkeit haben, wirkungsvoll. Aber schon die Geräuschvielfalt der Anschläge des von Stene auf einem kleinen Drehmotor fixierten Blatts, das die auszuwechselnden Gegenstände rundum streift und damit die musikalische Ausführung wie ein führendes Instrument dominiert, wären im Direkterlebnis kräftiger. Von der gegenseitigen Bedingtheit des Musizierens bleib im Stream das Verschmelzen der Klangerzeugungen, zumal durch die digitale Übertragung die stark perkussiven Parts aller Instrumentengruppen geglättet wurden.
Steen-Andersens Konzert-Performance – das zeigte sich auch bei „Way the Way“ im Alten Orchesterprobensaal der Berliner Staatsoper Unter den Linden zu Beginn dieser Spielzeit – zielen auf die konzertartig-performative Verdichtung eines Phänomens durch parallele und gegenläufige Reibungsverhältnisse. Aufgrund der Video-Zuspielungen, bei denen die Hände des Klangregisseur Norbert Ommer als vierte Ebene der Partitur projiziert wurden, leuchtete das Bockenheimer Depot in dunklem Blau, welches die Leere in der Raummitte kaschieren sollte. Hier wäre der Platz für das Publikum gewesen. Für die Musikergruppen hatte Steen-Andersen feine klangliche Wellengänge und vor allem Tausende von akzentuierenden Nadelstichen komponiert, die mit Stenes motorisierter Geräuschfabrik und den projizierten choreographischen Handarbeiten noch einige Wahrnehmungsschaukeleien hätten verursachen sollen.
Die wichtigste Kamera schaute dem Kontrabassisten über die Schulter Richtung Leinwand. Sie versuchte alles zur Verdeutlichung, dass es hier um Performance und nicht um Film geht. Trotz der Beeinträchtigungen, mit denen das Konzert durch die Amputation des physischen Erlebniswertes erkauft werden musste, waren die kognitiven Anforderungen und Unterhaltungswert auf hohem Level. Immerhin bleibt nach dieser „Happy New Ears“-Ausgabe die Gewissheit, dass der große Aufwand an technisch-elektronischem Spielwerk das physische Publikum und dessen durch das Live-Erlebnis geschärfte Sinne noch lange nicht verzichtbar macht.
Wiederholungen am 23., und 28. März 2021 (jeweils 19.30 Uhr) als Videostream - Solidarisches Preissystem (frei wählbar): Einsteigerpreis € 5 / Normalpreis € 12 / Unterstützerpreis € 30 Ticketshop: https://ensemble-modern.reservix.de/events - Die Happy New Ears Reihe 2020/2021 ist eine Kooperation von Ensemble Modern, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt sowie Oper Frankfurt. Gefördert durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft. Mit freundlicher Unterstützung der Freunde des Ensemble Modern e.V.