Hauptbild
Mit der ersten Neuproduktion von Louis Andriessens Musiktheaterwerk „De Materie“ seit dessen Uraufführung 1989 startete die Ruhrtriennale in ihre dritte Ausgabe unter der Intendanz von Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann
Mit der ersten Neuproduktion von Louis Andriessens Musiktheaterwerk „De Materie“ seit dessen Uraufführung 1989 startete die Ruhrtriennale in ihre dritte Ausgabe unter der Intendanz von Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Geschichte und Bild sind eins

Untertitel
Andriessens „De Materie“ zum Auftakt der Ruhrtriennale
Publikationsdatum
Body

Gut möglich, dass es sich unterm Strich als das bleibende Bild herausstellen wird: die Drohne in romantisierender Zeppelin-Gestalt, kreisend, Haken schlagend über dem Urbild des Pastoralen, einer ziemlich real vor sich hinblökenden, köttelnden, in den Tiefen der Duisburger Kraftzentrale herumirrenden Schafherde. Mit der Neuinszenierung von Louis Andriessens Musiktheater „De Materie“ hat Heiner Goebbels auch in der Schlussausgabe seiner Ruhrtriennale noch einmal eine Probe seiner Handschrift abgegeben.

Kein Zufall, dass Adalbert Stifter auch jetzt wieder durch Goebbels’ Eröffnungsinszenierung spukt. Der romantische Dichter hat es ihm angetan. Schon immer. Siehe „Stifters Dinge“, diese ganz aus dem Geist einer bürgerlichen Sehnsuchtsromantik gewebte, audiovisuell bewegte Multimedia-Installation im Rahmen der Ruhrtriennale-Ausgabe 2013 (nmz 11/2013). Und so, überbewusst traumselig, geht es nun weiter. Spricht Stifter vom „leeren Nichts“, von „Glanz“, von „Gewühl“ und von frühen Erfahrungen, die er gemacht, vielleicht auch nur halb gemacht und halb geträumt hat – dann nimmt ihn Heiner Goebbels beim Wort. Wie auch sollte man sonst, denkt man sich, der beängstigenden Tiefe dieser leergefegten Industriekathedrale Paroli bieten? Anders gefragt: Wie füllt man ein „leeres Nichts“? Indem man seinem Stifter-Instinkt folgt!, antwortet uns Goebbels. Für die Nicht-Eingeweihten, könnte man sagen, dass es sich dabei um eine Mischung handelt aus der Leichtigkeit des Unbewussten, aus Verstörung durch extreme Gegensätze und (wie bei allen Romantikern) aus Schwärmerei. Wofür Andriessens „De Materie“ mit seinen vier „unabhängigen Teilen“ eigentlich wie geschaffen ist. Da es, aufgespalten in erratische Brocken, nichts erzählt, sondern Zustände beschreibt, erzählt Goebbels eben seine eigene Geschichte, frönt seinen eigenen Obsessionen.

Nur, dass er die neoromantischen Bilder seiner Musiktheater-Obsession eigentlich nicht erfindet, sondern findet. Der Koffer, in dem er stochert und in dem er schon für Partchs „Delusion of the Fury“ wie für Cages „Europeras“ fündig geworden ist, hat die Aufschrift kollektives Gedächtnis. Daran rührt er und berührt uns. Alles, was Goebbels zeigt, kommt aus Bildern oder geht in Bilder zurück. Wie überhaupt Geschichte und Bild für ihn eins sind.

Man erlebt es gleich zu Anfang, wenn signalhafte, eigentümlich statisch-perkussive Bläser-Klänge ihre hypnotische Wirkung entfalten. Dann geht der Blick weg von Peter Rundel und vom Ensemble Modern Orches­tra hoch in die Galerie, wo die Choristen vom ChorWerk Ruhr, in historischer Gewandung der Vertreter der niederländischen Generalstaaten, aus dem Hintergrund einer Art Chorgestühl heraustreten, damit sie im hohen Deklamationston die Unabhängigkeitserklärung von 1581, die Akte van Afzwering, herunterbeten können. Eine Bewegung, die Goebbels ebensogut rückwärts, als Krebs, lesen kann. Wenn Teilchenexpertin Marie Curie in „De Materie“ Teil 4 ihren monologisierenden Dialog mit ihrem tödlich verunglückten Ehemann beginnt und an die Stelle kommt, an der sie von ihrer Arbeit spricht und von der Trauer, dass er nicht mehr dabei sein kann, hat Goebbels wieder ein Bild im Kopf. Aus dem Dark lässt er Statisten auf die Bühne eilen, damit sie das berühmte Foto der Solvay-Konferenz, Brüssel 1911, nachstellen. Technik der Lebenden Bilder, ein Spezifikum der Künstlerfeste des 19. Jahrhunderts. Nichts ist so alt, dass es nicht wieder recycelt werden könnte.

Und schließlich dann die nur leicht verfremdete Reverenz an eine Schlüsselszene der Filmgeschichte. Der Pas de deux aus Zeppelin-Drohne und Schafherde, aus Zukunft und Archaik, hat sein Vorbild (es dämmert uns, je länger wir diesem elegisch-stummen Erzählen folgen) in Kubricks „Odyssee im Weltraum“: raufende Primaten, die zu Strauss’ „Zarathustra“-Musik auf einen mysteriösen schwarzen Monolithen treffen. Bliebe eigentlich nur die Frage nach dem geworfenen Knochen, der zur Raumfähre wird? Man unterschätzt diese Ruhrtriennale, wenn man ihr nicht auch darauf eine Antwort zutraute. (Fortsetzung in nmz 11/2014)

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!