Die Tragedia in vier Akten und fünf Bildern, Francesca da Rimini, von Riccardo Zandonai, das Libretto stammt von Tito Ricordi frei nach Gabriele D’Annunzios gleichnamiger Verstragödie, erlebte ihre Uraufführung am 19. Februar 1914 im Teatro Regio in Turin und ist bis heute seine meistgespielte Oper, die hierzulande allerdings kaum je gespielt wird. Die Deutsche Oper Berlin hat sie ausgegraben und pandemiebedingt als digitale Premiere im Stream am 14. März 2021 gezeigt. Am 19. Mai 2023 war Publikumspremiere.
Das Stück beginnt mit Betrug und endet mit einer doppelten Tragödie. Im Mittelpunkt steht Francesca da Rimini oder Francesca da Polenta, wie sie eigentlich heißt. Sie war Zeitgenossin Dante Alighieris und eine der Handlungspersonen in dessen „Göttlicher Komödie“. Berühmt wurde sie durch den Umstand, dass sie von ihrem Ehemann, Giovanni Malatesta, wegen Ehebruchs mit dessen jüngerem Stiefbruder Paolo ermordet wurde.
Die im Mittelalter spielende Tragödie Dantes (ob Legende oder historische Tatsache, sei dahingestellt) wurde vielfach von Komponisten (wie Saverio Mercadante, Franz Liszt, Peter Tschaikowski, Sergei Rachmaninow, Boris Blacher und anderen) aufgegriffen und bearbeitet, auch in Bildender Kunst (Jean-Auguste-Dominique Ingres, Gustave Doré, Anselm Feuerbach, Auguste Rodin) und Literatur, unter anderem von Giovanni Boccaccio, John Keats, Paul Heyse und Ernst von Wildenbruch. Die prominenteste Version ist sicher die von Gebriele D’Annunzio, der sein gleichnamiges Drama 1901 für die berühmte Schauspielerin Eleonora Duse herausbrachte. Vertont hat sie, und es ist die bis heute sich behauptende, wenn auch selten gespielte Opernversion, Riccardo Zandonai.
Was die Vorlage angeht: Die reine Spieldauer des Fünfakters D’Annunzios dauert fast vier Stunden. „Mit den nach jedem Akt üblichen Pausen war der Teil des Publikums, der bis zum Ende blieb, also fast sechs Stundenden Klangzauber von D’Annunzios Versen und den Schauspielkünsten seiner Geliebten Eleonora Duse ausgesetzt…
Um den Text auf musiktheatertaugliche Dimensionen zu stutzen, mussten also etwa drei Viertel von D’Annunzios Text gestrichen werden. Tito Ricordi, der Eigentümer des wichtigsten italienischen Musikverlags, wagte sich an die fast unlösbare Aufgabe. Von etwa 4.000 Versen blieben nur knapp 1.000 (übrig). Doch habe, so erinnerte sich der Komponist 26 Jahre später, D’Annunzio die Hand Ricordis geschüttelt und ‚wörtlich’ gesagt: ‚Bravo, Tito; Du bist wirklich ein Mann des Theaters; Deine Kurzfassung ist vollkommen und ich wünsche, dass im Librettodruck Dein Nameneben meinem erscheinen möge. (Anselm Gerhard im Programmheft)
Es war eine radikale Kürzung und das beste Beispiel für das, was man später einmal „Literaturoper“ nennen sollte. Es wurde ‚nur‘ der Umfang, nicht aber der Wortlaut des literarischen Textes angetastet. Dennoch ist das Stück lang und redundant, von Anfang bis Ende musikalisch unter Hochdampf segelnd, zwischen Wagner, Strauss und der Moderne. Auch wenn Zandonai im Pianissimo einen flimmernden Klangteppich ausbreitet, setzt er doch auf andauernde Hochdramatik, ja Brutalität, freilich mit raffiniertesten Klangfarben und ungewöhnlichen Harmonien, irgendwo zwischen „Tristan“ und italienischem „Verismo“. Der kroatische Dirigent Ivan Repušić bringt das mitreißend, ja rauschhaft zur Wirkung.
Die Inszenierung des Regisseurs Christof Loy setzt dagegen auf geschmackvolle Reduzierung. Ein Einheitsbühnenbild (Johannes Leiacker) zeigt die Kopie von Claude Lorrains Gemälde „Morgen. Landschaft mit Jakob, Rachel und Lea am Brunnen“, hinter dem Fenster eines großbürgerlichen Wintergartens, der wie ein Theater zu öffnen und zu schließen ist. Eine Anspielung auf das zentrale Motiv des Ehebetrugs, die den meisten Zuschauern wohl verborgen bleibt.
Blümchentapeten und viel ausgestreuten Blumen dominerten und kontrastieren mit den Kostümen von Klus Bruns, die einen Spagat zwischen Zandonaizeit und Heute wagen. Schwarz und Weiß sind vorherrschend in dieser strengen krimiartig abschnurrenden Veranstaltung, die Blutrausch und Wollust einer Familientragödie als kammerspielartigen, fast filmisch intimen, auch reißerischen Clan-Krieg zwischen den Polenta und den Malatesta präsentieren.
„Das wird vor allem in den wenigen Szenen mit Chor erfahrbar. Wir wurden nun für diese Produktion durch die äußeren Umstände gezwungen, den Chor nicht szenisch einzusetzen“, so Loy: „Man erlebt eigentlich eine Versammlung von Verdammten. Luchino Visconti war nah dran an solchen Gestalten.“
Die verdammteste Person, Francesca wird bei Loy eindeutig aufgewertet: „Francescas Hasspotential, ihre Lust an Macht und Herrschaft sind gepaart mit einer großen Liebesleidenschaft und der Sehnsucht, mit einem Menschen in tiefster Seele verbunden zu sein.“, so der Regisseur im Programmheft.
Seine Personenführung ist virtuos, seiner Darstellung von Gewalt und Leidenschaft des feurigen Dramas muss fast ein „Zuviel“ bescheinigt werden. Doch die Dauerextase zieht in ihren Bann, nicht zuletzt aufgrund einer exzeptionellen sängerischen Besetzung.
Die amerikanische Sopranistin Sara Jakubiak in der Titelpartie brilliert wie schon 2017 in Loys Inszenierung der Korngold-Oper „Das Wunder der Heliane“. Eine leuchtend dramatische, schöne Stimme. Noch imposanter zeigt sich Jonathan Tetelman als wahrhaft „schöner Paolo“ ein Bild von einem Mann und ein kraftvoller Heldentenor, der nichts zu wünschen übriglässt. Ivan Inverardi in der Partie des Ehemanns Giovanni verbindet baritonale Härte mit der von der Partie geforderten Hässlichkeit der Darstellung. Charles Workman überzeugt mit geradezu sadistischer Perversion des einäugigen Malatestino.
Aber auch alle übrigen Partien überzeugen. Ein großer Erfolg, diese Ausgrabung der Deutschen Oper Berlin.