Wie kann das funktionieren? Komponisten der Gegenwart und solche der Vergangenheit stehen gemeinsam bei einer „Liederwerkstatt“ im Fokus – in der fränkischen Kuridylle von Bad Kissingen … Sie hat zum zehnten Mal stattgefunden. Aber es wird eng um die Wortlieferanten, denn es geht jeweils nur um einen einzigen Dichter bei den Textvertonungen. Und die großen Poeten sind längst „durch“, also Goethe und Schiller, Hölderlin und Heine, Mörike, Rückert und Eichendorff, Rilke und Brentano, auch Shakespeare.
Blieben diesmal abzuarbeiten: die Großmeister des altitalienischen Sonetts, Francesco Petrarca und Michelangelo Buonarroti. Die wortzirzensischen, dabei tief empfundenen Liebesgedichte des Renaissance-Poeten Petrarca (1304–74) und die harschen Sonette und Madrigale des barocken Bildhauers, Malers, Architekten und Poeten Michelangelo (1475–1564) waren und sind Herausforderungen auch für die erfahrensten der Liedkomponisten, jene, die sich bisher um Petrarca- oder Michelangelo-Vertonungen bemühten und noch heute mühen – mit neuen Möglichkeiten, Erkenntnissen, Lösungen und Deutungen beim Vertonen.
Kissingens Liederwerkstatt ist in der Idee und Dramaturgie einzigartig. Das Juwel Kunstlied wird hier nicht nur in seiner größten Epoche vorgeführt, dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Auf dem Prüfstand stehen Wege neuer Lyrikvertonung in heutigen Musiksprachen. Vier Jahre lang tagte die Versuchsanordnung im oberbayerischen Bad Reichenhall, seit 2006 ist sie Teil des Festivals Kissinger Sommer. Die renommierten Komponisten der ersten Stunde: Wilhelm Killmayer, Aribert Reimann und Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn, Moritz Eggert und Jan Müller-Wieland. Es gab Rücktritte, Auswechslungen, jetzt stießen drei jüngere Komponisten hinzu: der Deutsche Oliver Schneller, der Italiener Emanuele Casale und der Kanadier Samy Moussa.
Das Spannende der von dem Berliner Pianisten Axel Bauni künstlerisch geleiteten Liederwerkstatt liegt in der Beobachtung verschiedenartiger moderner Liedvertonungen – musikalisch, stilistisch, atmosphärisch –, aber ebenso in deren Konfrontation mit älteren Liedkompositionen. Warum vertonten Schubert und Rihm Goethe ganz anders, wieso verstanden Schumann und Killmayer Heine so unterschiedlich, inwiefern lassen sich Strauss und Reimann bei einem Gedicht Mörikes vergleichen? Dass vier exzellente Sängerinnen und Sänger sowie drei erfahrene Pianisten die Lieder erarbeiten und im Rossini-Saal des Kissinger Regentenbaus live vortragen, macht die Werkstatt lebendig.
Beide Konzertmatineen boten Vergleichsmöglichkeiten, Bestätigungen wie Überraschungen. So fiel etwa eine Petrarca-Vertonung Schuberts in ihrem konventionellen Ausdruck, mit Erlkönig-Anklängen und seraphischen Trostwendungen, deutlich ab gegen Petrarcas 92. Sonett in der Vertonung Hans Pfitzners, inspiriert im Gestus des Aufschwungs wie der Befremdlichkeit, glänzend realisiert durch den strahlkräftigen Tenor Karol Kozlowski, den Jan Philip Schulze begleitete. Kozlows-ki und Bauni gestalteten dann Brittens sieben berühmte Michelangelo-Sonette. Franz Liszt hat seine drei Petrarca-Sonette auch für die Singstimme mit Klavier geschrieben. Hugo Wolfs drei schwer lastende Michelangelo-Gedichte waren auch hier die existentiellen Zeugnisse der Todessehnsucht wie der Ergebenheit – vom Bariton Peter Schöne und Axel Bauni mit untrüglichem Sinn für romantisch-dramatische Schattenrisse dargeboten.
Peter Schönes kontrollierte Leidenschaft war das rechte Medium für drei neue Michelangelo-Sonette Wolfgang Rihms in Rilkes Übersetzung: Die Musik gräbt sich ein in Texte und ihre Zwischenräume, bietet gleichsam Varianten sinnierender Dionysos-Befindlichkeit zwischen Lebensdrang, Analysegeist und Verzweiflung. Rihm „erzählt“ plastisch mit jähen modulatorischen Wendungen und mit klirrenden Klavierakkorden. Danach Schostakowitsch: Die tragischen Michelangelo-Lieder aus letzter Lebenszeit tun kund, wie sehr die todessüchtigen alten Verse Zeugnisse tiefer eigener Depression wurden, wiederum von Peter Schöne gesungen, in Moritz Eggerts klangsatter Begleitung.
Wilhelm Killmayers lapidares Petrarca-Madrigal und das Sonett Nr. 90, beide in Originalsprache, stammen von 2004 – Gebilde der kecken Leichtigkeit über dem Urgrund schwelender Ekstase. Petrarcas kühn konstruierte Lebensbilder erscheinen traumhaft abgehoben und dürfen am Ende in verzückten Klaviertrillern nachbeben. Killmayer selbst, der Hochbetagte, kam nicht nach Kissingen, sein Schüler Moritz Eggert legte immerhin Zeugnis ab von der extravaganten Eigenheit des Komponierens, die er bei seinem Lehrer beobachtet hat. Eggert wählte nur eine einzige Petrarca-Zeile aus – „und siehe wohl, wie unser Leben verfliegt/Und es uns nicht mehr als einmal vergönnt ist“ – und phantasierte sich mit ihr in Abgründe des am Klavier Obsessiven, wobei der Mezzosopran Olivia Vermeulens sich ins stotternd Rabiate oder flüsternd Absurde begibt.
Auflösung traditioneller Liedvertonung – so verfahren auch die drei „neuen“ Liederwerkstatt-Komponisten. Der gebürtige Kölner Oliver Schneller hat ein Michelangelo-Sonett in englischer Übertragung gewählt und liefert eine heftige, ja harte Vertonung ab, eine gleichsam „felsige“ Musik als seelischen Kraftakt. Der Sizilianer Emanuele Casale hat einzelne Petrarca-Zeilen aus dem Zusammenhang gerissen und die Sopranistin Caroline Melzer in abenteuerliche Sprünge und Glissandi gelockt, um etwas gläsern Zerbrechliches darzustellen. Der Kanadier Samy Moussa schließlich, Jahrgang 1984, diesjähriger Siemens-Förderpreisträger: Seine losen Michelangelo-Verse bilden die Folge von „Frammenti dolorosi et amorosi“, darin steckt eine hochexpressive, rhetorisch entfesselte, mit Effekten aufspielende Musik. Die Kissinger Liederwerkstatt hat nächstes Jahr ein Problem: Woher und welche Dichter nehmen für immer neue Lieder?