Friedhofsblumen fallen zu Boden. Eine Frau in schwarzem Müllsack-Kleid lässt sie fallen. Wenn sie bis 15 gezählt hat und 15 rosa Nelken am Boden liegen, sind wir alle gemeinsam tot. Posaunenklänge, hohe Töne durch einen Dämpfer gepresst. „Was wie Amok erscheint, ist in Wirklichkeit Bürokratie, Parteiarbeit, Routine, Organisation!“, ruft die Mülltüten-Frau und sinkt zusammen, eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Der Innenhof des Klosters Irsee liegt im Schatten. Wo gerade noch die Frühlingssonne freundlich gewärmt hat, weht jetzt ein eisiger Wind.
„Spurenelemente“ nennt sich diese musikalische Performance, ein Teil des Festivals „Tonspuren“, das von 10. bis 12. April 2015 in Kloster Irsee im Allgäu stattfand. Ein jährlich wechselnder künstlerischer Leiter erstellt in Zusammenarbeit mit regionalen Kooperationspartnern wie Schulen, Musikeinrichtungen oder Kulturvereinen ein Festivalprogramm. Im Gründungsjahr 2013 war dies der schweizer Klarinettist Claudio Puntin, letztes Jahr der Münchner Kontrabassist Henning Sieverts.
Bei der dritten Ausgabe von „Tonspuren“ durfte sich der in Berlin lebende Gitarrist und Komponist Marc Sinan über ein Jahr auf die Festivaltage vorbereiten. Gemeinsam mit der Tonspuren-Intendantin Martina Taubenberger entwickelte er ein vielschichtiges Konzept. Geschichte und Geschichten prallen hier aufeinander.
Exkurs „Irsee“: Im 12. Jahrhundert entsteht an diesem Ort ein Kloster, die dazugehörige Kirche wird nach dem Dreißigjährigen Krieg prachtvoll in barockem Stil wiedererbaut. Nach der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts eröffnet 1849 auf dem ehemaligen Klostergelände die erste schwäbische „Kreisirrenanstalt“. Weniger als hundert Jahre später finden hier unter der grausamen Führung der Nationalsozialisten Hungerexperimente und Impfversuche an Kindern statt, mehr als 2.000 Menschen werden bei Aktionen zur „Vernichtung unwerten Lebens“ ermordet. 1949 werden die Verantwortlichen verurteilt, 1972 wird die Nervenheilanstalt geschlossen und schon neun Jahre später als schwäbisches Tagungs- und Bildungszentrum wiedereröffnet.
An allen Ecken dieses Hauses schwingt seine Geschichte mit. Jedes noch so schöne Deckenfresko wirkt verzerrt angesichts der Verbrechen, die unter diesen Kunstwerken geschehen sind. Marc Sinan, Jahrgang 1976, brachte zu „Tonspuren“ auch seine eigene Geschichte mit. Er ist Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters. Seine armenische Abstammung war aber nicht immer bekannt.
Im Alter von 13 Jahren reist er an die türkische Schwarzmeerküste, um seinen Großeltern den Sommer über zu helfen. Marc Sinan vertieft die Beziehung besonders zur Großmutter und eines Tages weiht sie ihn in ihr Geheimnis ein: Im Jahr 1915, als Siebenjährige, werden ihre leiblichen Eltern, armenische Christen, verschleppt. Sie kommt in eine türkische Pflegefamilie und soll dort eine „echte“ Türkin werden, den islamischen Glauben annehmen und ihre armenische Vergangenheit vergessen. Ein entwurzeltes Mädchen, das erst Jahrzehnte später über dieses Trauma sprechen kann. Marc Sinan verknüpft in seiner Musik das Schicksal der eigenen Familie mit dem einer bedeutenden armenischen Figur.
Exkurs „Armenien 1915“: Im April 1915, im Zuge des Genozids in Armenien, wird auch der Mönch Komitas Vardapet deportiert. Er ist armenischer Musikethnologe, Komponist und Gelehrter und somit Sammler und Zeuge der armenischen Kultur. Komitas wird als einer von wenigen verschont. Während nach Schätzungen rund 1,5 Millionen Armenier den Tod finden, darf und muss er weiterleben. Er zerbricht daran und komponiert nicht mehr. 1919 wird Komitas nach Frankreich gebracht und bis zu seinem Tod im Jahr 1935 in psychiatrischen Kliniken betreut.
Kein leichtes Unterfangen, das der künstlerische Leiter Marc Sinan beim Festival Tonspuren 2015 zu bewältigen hatte: seine persönliche Geschichte, eine historische Figur und deren Bedeutung für ein ganzes Volk mit dem Veranstaltungsort zu verbinden. Dazu kommt noch die aktuelle Brisanz: Kurz vor dem Festival bezeichnete Papst Franziskus die Ereignisse in Armenien 1915 als „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“, was von der türkischen Regierung als „Unsinn“ abgetan wurde.
In ganz unterschiedlichen Programmpunkten versuchte Sinan, all diese Themen unterzubringen. Die Musik war teilweise schwer verdaulich und verstörend, aber äußerst ausdrucksstark. Den Beginn des Festivals markierte die Uraufführung des Theaterstücks „Komitas“. Leben und Leiden des armenischen Mönchs wurden in Wort, Musik und Videoeinblendungen abstrakt beschrieben. Das Publikum wanderte, geleitet von verschiedenen Lichtinstallationen, durch den Klosterkomplex, um dann zum Aufführungsort zu gelangen. Beim Konzertteil „Spurenelemente“ am nächsten Tag wurden diese Lichtstationen mit Musik ergänzt, gestaltet von ein oder zwei Musikern, im Innenhof, in Gängen und Treppenhäusern. Meist leitete eine freie Improvisation in ein Thema von Komitas über. Das war mal wilder Freejazz, wie bei Sinan selbst, der mit seiner E-Gitarre auf Klangerkundung ging, oder mal fein-zerbrechliche Kammermusik, wie beim Duo von Vibraphonistin Maria Schneider und Flötist Sascha Friedl.
Das Loungekonzert am Samstagabend gab Sinans sechsköpfigem Ensemble die Gelegenheit sich freizuspielen. Die lang angelegte Improvisation, pendelnd zwischen Neuer Musik und von Folklore beeinflusstem freiem Jazz, durfte schwerelos fließen. Nicht immer entstand dabei Großartiges, aber es schien den Musikern und den Zuhörern gut zu tun, sich bei diesem Konzert einfach nur in die Klänge hineinfallen zu lassen. Den Abschluss des Festivals bildete das Konzert mit Komitas’ Originalwerken für Gesangssolisten und Chor, interpretiert vom via-nova-chor München. Auch hier verbanden Sinan und sein Ensemble die einzelnen Teile mit stimmungsvollen Improvisationen. Lebendig und kraftvoll erschien die Musik des armenischen Geistlichen und Marc Sinans Abstraktion des Ganzen stellte den Bogen zum Hier und Jetzt her.
Tonspuren 2015: ein beeindruckendes, berührendes und nachhaltig wirkendes Festival, das durch den aktuellen Diskurs noch mehr Gewicht bekommt.