Frieder Reininghaus berichtet aus Linz und wirkt etwas unglücklich mit der Opern-Reise, auf die man dort geschickt wird: „Gewiss: Theater darf träumen – und Theater will träumen. Die Frage bleibt nur, ob es Träume dieser Art kolportieren will oder nicht tunlichst andere.“
Wer etwas Besseres als den Tod vom bedrängten Leben erwartet, wird sich im Zweifelsfall auf den Weg machen. Was die Motive für Stammes- und Völkerwanderungen in prähistorischen Zeiten waren, lässt sich heute nurmehr vermuten. Dass in der Geschichte der Spezies Mensch freilich nicht nur Einzelne oder kleinere Gruppen gute Gründe hatten, die Risiken der Auswanderung auf sich zu nehmen, sondern auch Staaten begannen, ihre inneren Probleme dadurch lösen zu wollen, dass sie sich zu expansiver Siedlungspolitik an fernen Gestaden aufrafften, tritt spätestens seit der Unterwerfung und „Zivilisierung“ Nordafrikas durch die Phönizier und Siziliens durch die Griechen ins Bewusstsein. In der europäischen Neuzeit spielen Auswanderung und Kolonisierung eine Schlüsselrolle. Die Wünsche oder Utopien, drohendem Untergang durch Erschließung einer Neuen Welt zu entgehen, haben sich hartnäckig gehalten. Sie sind auch der Ausgangspunkt einer Fantasy-Oper des Wiener Literaten Franzobel und des aus Heidelberg stammenden Münchener Komponisten Moritz Eggert.
Bezogen auf sein Berufsfeld hat der von Wilhelm Killmayer ausgebildete Eggert* schon als junger Mann die Idee der Auswanderung realisiert. Da ihm musikstilistische Reinheitsgebote ein Dorn im Ohr waren und er mit dem in Avantgarde-Kreisen verbreiteten Dünkel haderte, wanderte er aus dem Zirkel der Neuen Musik aus. Bevor er sich 2005 im Rahmen der RuhrTriennale einem größeren Publikum mit dem demonstrativ auf Flachpass-Spiel angelegten halbszenischen „Fußballoratorium“ vorstellte, produzierte er zum Beispiel die Kammeroper „Wir sind daheim“ oder das Tanztheaterstück „Gegenwart, ich brauche Gegenwart“. Beide Titel, programmatisch gewählt, verwiesen auf Desiderate: auf die Ort- und Heimatlosigkeit der ubiquitär subventionierten neuen Musik und deren vorherrschende Scheu vor Bezugnahme auf gesellschaftliche Gegenwart.
Für seine Arbeiten sucht sich Eggert das melodische und rhythmische Material zusammen, wo immer er es in der neueren Kompositionsgeschichte eben findet. So auch bei „Terra nova“ (einem Auftragswerk des Landestheaters Linz). Die Hauptkomponente des übersichtlich in Nummern gegliederten und mit allen erdenklichen Kontrastwirkungen operierenden Tonsatzes rührt vom Musical her, insbesondere von Fortschreibungen der in den USA entstandenen Arbeiten Kurt Weills. Es finden sich in der Partitur auch Rückgriffe auf Singspiel-Traditionen – die Partie der Mondkult-Hohenpriesterin und Sektenvorsteherein Chang’e beispielsweise, die an der von Emanuel Schikaneders Königin der Nacht anknüpft.
Rhythmische Impulse rekurrieren auf die verschiedenartigsten Modelle des 20. Jahrhunderts – der Sound lässt weißen Jazz antanzen, Rap antraben und Barmusik dümpeln. Einzelne Orchester-Episoden spielen auf Siegfrieds Schwert-Motiv an oder aufs Final-Terzett des „Rosenkavaliers“. Durch die Nächte einer schwerbeschädigten Welt dringt das „Weiße Leben“, das auch ein weises Leben sein soll, zu einem sich hoch aufwölbenden neu-frommen Hymnus durch. Diese Melange will durchaus das Bewusstsein „Wir sind daheim“ mit dem Anspruch „Ich brauche Gegenwart“ verbinden. Sie verhält sich in einer diffusen Oppositionshaltung gegen „musikalisches Establishment“ trotzig, zugleich missionarisch zugunsten eines frisch-fromm-fröhlich-kessen Pluralismus. Eggert, gnadenlos populistisch, betreibt ein pfiffiges Geschäftsmodell.
Terra Nova wird das Raumschiff getauft, das zur 11. Galaxie aufbrechen soll – angetrieben von einer Substanz, von der man durch Meteoriten Kenntnis erlangt, die in der Sibirischen Steppe aufschlugen. Auf die von der Astronomin und NASA-Chefin Pandura, einer nachgeborenen Halbschwester der antiken Büchsen-Pandora, als „konkrete Utopie“ in Aussicht gestellte Mission in die bis dato für unerreichbar erachteten Fernen setzt die von Mr. Ruler geführte Welt-Weltregierung alle Hoffnung. Dieses Zentrum der schier unumschränkten Macht wollte und konnte die weitgehende Ausplünderung und Zerstörung der Erde nicht verhindern – gegenüber der Ära Trump/Putin/Merkel hat sich das ökonomische Gefälle zwischen den Eliten und den Volksmassen noch weiter vergrößert. Die Unmutsbekundungen der Entrechteten werden niedergeprügelt und -geschossen. Anführerin der Opposition ist die ehemalige Präsidentengattin, jetzt unter dem Namen Chang’e Sektenführerin (ihr Glaube überwindet allerdings alle Schranken des Raums und der Zeit). Es ist reinster Eskapismus: Der projektierte Umzug auf einen angeblich paradiesisch schönen Planeten in der fernen Galaxie soll zumindest die Probleme der Mächtigen, Reichen und Schönen hinieden lösen. Denn dort, auf „Eden“, leben angeblich friedliche, unsichtbare, gar unsterbliche Außerirdische wie im Schlaraffenland.
Das ehrgeizige Shuttle-Programm verpufft allerdings: Die drei Muster-Astronauten reisen in einen fröhlichen Drogenrausch und einem unbestimmten Ende zu. Vom intergalaktischen Kontakt zu den unsichtbar bleibenden „Rettern“ geht allerdings auch eine Infektion aus, deren Symptome weiße Hautflecken sind. Die Seuche bringt nicht schwarzen Tod, sondern „weißes Leben“: Sie macht die Erdlinge nach und nach so friedlich und unsterblich wie die Einwohner von Jules Vernes und Offenbachs Quiquendonne. Klassenkämpfe erübrigen sich also ebenso wie die Mühen des Geschlechtsverkehrs, da niemand mehr darbt oder neidet, altert oder stirbt.
Franzobel mag die Entbürdung und Entpflichtung der Menschheit von der Reproduktion als komische Volte konzipiert haben. Aber sie bleibt nur eine beiläufige Episode in einer Produktion, die im Übrigen Rulers Brave New World ironiefrei in Szene setzt. Die Demonstrationsszenen scheinen von jemandem choreographiert, der sich hinsichtlich der neueren sozialen Auseinandersetzungen in Madrid, Idomeni, Paris oder Brüssel noch nicht einmal am Fernseher kundig gemacht hat (die kläglich dargestellten Oppositionellen werden tendenziell denunziert). Carlos Padrissa von der im letzten Jahrtausend wegen ihrer damals neuen Regiesportarten bemerkenswerten Theatertruppe La Fura dels Baus skizziert die Wohnästhetik und die Machtzentralen der Weltelite in gelegentlich leicht erzitternder Latten-Architektur, die bestenfalls am benachbarten Busbahnhof Maß genommen hat. Das verkennt gründlich, dass Theater gerade auch bei Bildern von sozialen Konfrontationen oder bauästhetischen Details Darstellungsformen auf der Höhe der Zeit und der Produktästhetik finden muss, um nicht gestrig zu wirken. Besonders atavistisch: Ein Pappraketenstart. Und grotesk prüde: die biedere Choreographie keuscher Freudenmädchen von Mei Hong Lin. Es gibt, wenn ohnedies aufwendig mit Video-Zuspielungen hantiert wird, doch keinerlei Zwang, feurig-wuchtigste Energieentladung und andere weibliche Triebkräfte in derartiger Weise gefiltert-quasinaturalistisch zu zeigen.
Anlässlich einiger kürzerer Orchester-Interludien hatte Dennis Russell Davies Gelegenheit, das Bruckner-Orchester Hochleistungsantennen und Sonnensegel für die Geisterfahrt ausfahren zu lassen. Einen neuen Bund mit einem alten Gott besiegelt schließlich die von einem Kleinen Prinzen angeführte Hymne für eine Welt ohne Angst, Altern, Aggression und Alternativen. Neuland ist das nicht, sondern eine altbewährte religiöse Verheißung, die auf den St. Nimmerleinstag vertröstet. Gewiss: Theater darf träumen – und Theater will träumen. Die Frage bleibt nur, ob es Träume dieser Art kolportieren will oder nicht tunlichst andere.
Der scheidende Linzer Intendant Mennicken, der eigenhändig in Franzobels Libretto herumgefuhrwerkt hat (und man ahnt, mit welcher Zielrichtung), stand für ein Theater, das die „Leute in der Stadt“ (und auch theaterentwöhnte Bevölkerungskreise wieder) „abholen“ wollte. Dies ist ihm mit dem vor drei Jahren eingeweihten neuen Linzer Theater am Volksgarten in gewissem Umfang gelungen – mit einer breitgefächerten Gastronomie im Haus und um den Preis, dass Kunstansprüche „heruntergebrochen“ werden mussten (vornan mit einem krude konzeptionslosen und erbarmungswürdig provinziellen „Ring“ von Uwe-Eric Laufenberg). „Wir haben die Kunst“, bemerkte Friedrich Nietzsche 1888, „damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen“. Damit wir aber angesichts impertinent „abgesenkter“ Ausprägungen von „Kunst“ nicht das Interesse an ihr verlieren, müssen wir die Fragen nach ihrer Triftigkeit, Relevanz und Wahrheit stellen.
Korrektur: In der Fassung stand an dieser Stelle, dass Moritz Eggert auch bei Hans-Jürgen von Bose ausgebildet worden sei, das aber ist nicht richtig.