Neben Uraufführungen von leider meist nur eine Spielzeit an einem Haus überlebenden Auftragswerken sind es die Ausgrabungen vergessener Stücke, die etwas Abwechslung in die Opernspielpläne bringen. Wenn dann noch Georges Bizet draufsteht, ist das überregionale Interesse allemal geweckt. Mit der deutschen szenischen Erstaufführung der postum ergänzten fünfaktigen Fassung seiner Grand Opéra „Ivan IV“ hatte das Staatstheater Meiningen diesbezüglich schon mal einen ziemlichen Coup gelandet.
Ein Besuch der dritten Aufführung am 4. März bestätigte die musikalische Substanz der Rarität, zumindest was die vollständig überlieferten vier Akte der erst 1929 wiederentdeckten Partitur betrifft. Denn nachdem sich sämtliche Aufführungsmöglichkeiten zerschlagen hatten, ließ Bizet das um 1863 begonnene Werk unvollendet liegen – vom fünften Akt, von dem noch zu sprechen sein wird, sind nur Gesangsstimmen überliefert.
Das Libretto war einige Jahre zuvor auch von Charles Gounod vertont worden, ohne dass die Musik dann in dieser Form veröffentlicht worden wäre. Die Textdichter François-Hippolyte Leroy und Henri Trianon versuchen, um die Figur Ivans des Schrecklichen herum eine Geschichte über Liebe und Machtintrigen zu erzählen. Dieses „um … herum“ erweist sich allerdings als Problem, denn die Titelfigur ist in zu wenigen entscheidenden Szenen auf der Bühne präsent. Was ihn bei seinem territorialen wie amourösen Beutezug im Kaukasus umtreibt, bleibt nebulös, seine psychische Instabilität wird zu wenig plastisch, um den Zusammenbruch angesichts von Verrat und Brandanschlag im vierten Akt plausibel zu machen. Saftiger Grand-Opéra-Trash ist der Auftritt von Ivans Schwester Olga als Nonne ex machina im zweiten Akt. Sie bewahrt die eingangs entführte Marie, Tochter des Tscherkessenfürsten Temrouk, zunächst vor der erzwungenen Heirat mit dem Zaren, wozu in Meiningen die synthetische Orgel passenderweise bis zum Anschlag aufgedreht wurde.
Einen Akt und acht Monate später sind die beiden dann doch verheiratet und Marie hat liebevolle Gefühle für ihren Entführer entwickelt. Der ob der Zurückweisung seiner Tochter als Zarenbraut beleidigte Bojar Yorloff tut sich mit Maries Bruder Igor und deren Vater zusammen, schiebt das Komplott dann aber Marie unter, und so weiter …
Auch wenn angesichts des mitunter durchaus schwerfälligen Ganzen kaum zu glauben ist, dass Bizet etwa zehn Jahre später den epochalen Geniestreich „Carmen“ zu Papier bringen würde, so blitzt doch an erfreulich vielen Stellen seine melodische Erfindungsgabe und sein Sinn für transparente Klangfarbenmixturen jenseits des durchaus auch verwendeten breiten Orchesterpinsels auf. Den Vorbildern Meyerbeer oder Halévy geschickt folgend spannt Bizet erstaunlich mühelos große Bögen und Steigerungen inklusive Chor zu den Aktschlüssen hin; für die Verschwörung des intriganten Trios im dritten Akt orientiert er sich frech, aber effizient an der Atmosphäre der Sparafucile-Szene aus Verdis „Rigoletto“.
Zu den prägnanten Einzelnummern zählt das Duett von Marie und dem als Hosenrolle angelegten jungen Bulgaren im ersten Akt, auch wenn bei der besuchten Aufführung weder die Klang- noch die Rhythmusbalance mit der als Einspringerin aus der Loge vorne links singenden Luise von Garnier wirklich funktionierte. Dass sie den Abend rettete – einschließlich des kessen Boleros „Ouvre ton cœur“, den Bizet im zweiten Akt kurzerhand zu einem bulgarischen Lied recycelt –, war ihr aber in jedem Fall hoch anzurechnen.
Tomasz Wija nutzte die eher dünn gesäten Momente, dem Ivan zumindest vokales Profil zu verleihen, mit gut dosierter Bass-Wucht. Nicht minder raumfüllend waren im selben Stimmfach Shin Taniguchi als Yorloff und Paul Gay als Temrouk. Alex Kim gab einen tenoral durchschlagskräftigen, aber auch zu kontrollierter Zurücknahme fähigen Igor, was der herrlich umständlichen Wiederbegegnung des Geschwisterpaares im vierten Akt sehr förderlich war.
Den kompletten Abend überstrahlte indes Mercedes Arcuri als Marie. Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit deckte sie sämtliche Facetten der Sopranpartie ab, die so gut wie alles vom lyrischen bis kurz vors dramatische Fach verlangt, Koloraturen inklusive. Ihre formidable Leistung kulminierte in der großen, sämtliche Gemüts- und Stimmlagen durchmessenden Szene zu Beginn des vierten Aktes.
Dass nicht nur demgegenüber der komplette fünfte Akt so abfällt, liegt zum einen am Textbuch. Weder wird darin das potenziell bühnenwirksame Wiedererstarken des von Yorloff für tot erklärten Ivan und sein Ausbruch aus dem Kerker geschildert, noch gibt es stattdessen einen Überraschungsauftritt zur Krönung Yorloffs. Dafür wird der bereits entkommene Ivan für eine kurze Szene mit Temrouk zusammengespannt, bevor dieser dann Marie und Igor vor der Hinrichtung rettet und ein zügiges Happy End herbeigeführt wird. Leider hat außerdem Howard Williams bei der Orchestrierung einige Male arg daneben gegriffen, sodass der bis dahin gute musikalische Eindruck, an dem die herzhaft und detailgenau aufspielende Meininger Hofkapelle unter Philippe Bach großen Anteil hat, binnen kürzester Zeit verflogen ist.
Wenig falsch macht der für Regie, Bühne und Kostüme verantwortliche Hinrich Horstkotte, der die Handlung routiniert in einem geschmackvoll zeitlosen, aber auch etwas nichtssagenden Ambiente erzählt und dem Happy End nachvollziehbarer Weise misstraut. Ein gelungenes Bild ist die schiefe Tafel, auf der im zweiten Akt der von Ivan als Haussklave gehaltene junge Bulgare zum sexuellen Freiwild wird, markant das szenische Arrangement, bei der die Nonne Olga (Tamta Tarielashvili mit sonorer Tiefe) ihren Bruder wie bei einer Pietà-Darstellung auf dem Schoß hält.
Dem Staatstheater Meiningen ist zu danken, das insgesamt durchaus beachtliche Werk in dieser Form einmal szenisch zur Diskussion gestellt zu haben. Sollten künftige Produktionen auf den fünften Akt verzichten, würde sich der Verlust in Grenzen halten.