Das Theater Kiel hat Erfahrung mit der Grand Opéra, scheut den Aufwand für dieses Genre nicht. In den letzten vier Jahren wurden erfolgreich, wenn auch verstörend Meyerbeers „Hugenotten“ gezeigt, dann 2017 opulent Rossinis „Tell“. Zwei Jahre später folgte mit biederem Anstrich Aubers „Stumme von Portici“, und nun galt die Anstrengung Hector Berlioz mit seinem grandiosen Zweiteiler „Die Trojaner“ (Premiere: 7. März 2020). Es ist ein Werk, das allen Respekt fordert. Das Theater zollte ihn – ehrbar.
Alexandra Liedtke, gleichermaßen im Schauspiel wie in der Oper tätig, führte Regie. Das machte sich hier in exzellenter Personenregie, bei den Solisten wie beim Chor, bezahlt. Vor wenigen Monaten hatte sie Schwerin einen spektakulären „Rigoletto“ beschert. Jetzt wiederholte sich ihr Erfolg in Kiel mit der Aufgabe, Berlioz‘ wahrlich ‚große‘ Oper zu interpretieren. Wie schwer es sein muss, verdeutlicht ein kurzer Blick auf deren Aufführungsgeschichte. Mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte es, bis die zweiteilige Oper an einem Abend aufgeführt wurde. Lange galt sie als nicht aufführbar, allenfalls geteilt. Auch Kiel traute sich bisher nicht. So ist es die Erstaufführung der „Trojaner“ an der Förde – und immer noch eines der raren Ereignisse in der ganzen Republik.
Heldinnen
Die epische Dimension wird nicht umsonst mit der in Wagners Werken verglichen. Die zwei Handlungsteile „La prise de Troie (Die Einnahme von Troja)“ und „Les Troyens à Carthage (Die Trojaner in Karthago)“ besitzen eine gewaltige Breite, spielen an zwei verschiedenen Orten und sind durch etliche Jahre getrennt. Mit Aeneas und seinem Sohn Ascanius treten nur zwei Personen in beiden auf, lässt man die Schattenwesen außer Acht. Dennoch erhalten die Abschnitte durch die zwei weiblichen Hauptfiguren ganz eigenes Gewicht, bekommen durch sie andere Stimmungen. So wird der erste durch die Seherin Kassandra zu einer mythischen Erzählung mit düsterem Hintergrund, der zweite mit Königin Dido zu einer hochdramatischen Liebesgeschichte. In Kiel wurde das gar nicht erst zu einer Einheit zusammenzufügen versucht. Die Inszenierung nutzte die Divergenz geschickt für den theatralischen Aufbau, wirksam verstärkt noch durch die beiden Interpretinnen der Rollen.
Das Troja im ersten Teil muss man sich als eine farblose, durch den langen Krieg versehrte Stadt vorstellen, das Karthago im zweiten dagegen als eine aufblühende Siedlung, gerade einmal sieben Jahre alt. Bühnenbildner Philip Rubner trug dem Rechnung und gab dem ersten Teil ein weites ovales Bühnenrund mit einem Lichtband oben, in das sich die vermeintlich befreiten Trojaner in der ersten Szene ergießen konnten. Der zweite Teil wirkte eng. Ein mobiles, containerartiges Konstrukt mit Gazevorhängen, dazu ein paar Palmen in Kübeln standen für Didos Palast, im Hintergrund eine pittoreske Landschaft. Beide Orte hatten den gleichen Bühnenhimmel, darinnen einen kreisrunden Durchlass. Daraus hing im ersten ein Seilgebinde herab, an dem spektakulär das Pferd herabgezogen wurde. Ein zylindrischer Körper war das, dessen Wand die Anmutung von Betonhärte hatte.
Optisches
Ausdrucksstarke Kampftumulte gab es vor Troja wie in Karthago. Sie wurden zum Ausdruck immer gleicher Barbarei, waren zugleich Bindeglied zwischen den Teilen. Das gipfelte in eindrucksvollen Paralleltableaus, wenn Aeneas mit Speeren bedroht wurde. Die Inszenierung verzichtete dabei auf jeden historisierenden Realismus, auch bei den Kostümen, gestaltet von Johanna Lakner. Leitend war hier Ästhetik oder ein abstrahierendes Gestalten, das im zweiten Teil nur scheinbar zugunsten einer üppigen Pracht aufgegeben wurde. Sie stand für Verehrung, die Dido entgegengebracht wurde, weil sie innerhalb von sieben Jahren ihr Volk zu Wohlstand geführt hatte. Da war ihr pompöser Kopfschmuck mitsamt Hörnern ebenso wie ihr hervorstechendes Jagdkleid nicht nur Augenweide, eher angemessenes Utensil. Sie wurde so zum Gegenbild von Kassandra, deren Kleid in ihrem zeremoniellen, nahezu priesterlichen Violett Strenge und Beherrschtheit signalisierte.
Selbst wenn Kiel sich wieder einigen Aufwand leistete, wurde doch auf ausladende Tanzszenen verzichtet. Berlioz hatte sie dem Zeitgeschmack gehorchend eingebaut. Dass sie hier fehlten, hatte den Vorteil, dass der Karthago-Teil an dramatischer Kraft gewann. Lediglich im ersten Akt das Solo der Andromache blieb. Sie, die stumme Witwe Hectors kann nur in der Bewegung ihren Schmerz vermitteln. Heather Jurgensen, Ballettmeisterin im Kieler Ballett, gestaltete das ungemein einfühlsam.
Kassandra – Dido
Eine weitere Dimension bekam die Oper durch Zitate aus Christa Wolfs „Kassandra“-Erzählung, 1983 in Zeiten besonderer Ost-West-Spannung entstanden. „Das Ende dieses Krieges war seines Anfangs wert, schmählicher Betrug“ oder „Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus“ war zu lesen, Aussagen, die Heldenverehrung kontrapunktierten. Berlioz hatte bereits vorgedacht, seine Heldinnen stark gemacht, die Inszenierung verstärkte das, auch durch die Darstellerinnen, beide aus dem Ensemble. Star wurde Kiels Tatia Jibladze, die Kassandra, die sich allen gegenüber behauptete. Ihre in allen Lagen kraftvolle Stimme machte das möglich, nicht nur Berlioz‘ Melos eindrucksvoll zu gestalten. Sie bewahrte einerseits der Figur ihre Würde, andererseits zeigte sie ihre zerrissene Tiefe, ihr Leiden an der Sehergabe und ihren Zweifel in ihren menschlichen Gefühlen. Die Gegenfigur interpretierte Agnieszka Hauzer. Ihre Stimme leuchtete wunderbar in der Höhe, war in dramatischen Momenten nicht verzerrt. Im Spiel musste sie, anders als die dunklere Kassandra, eine liebende, dann zutiefst verletzte Frau darstellen, was ihr intensiv und einleuchtend gelang.
Die „Trojaner“ sind eine Frauenoper geworden, in der es noch eine Figur gab, die aufsehen und aufhorchen ließ. Das war Anna, Schwester Didos. Maria Gulik hatte den Part übernommen, eine Altistin, die zunächst im ersten Teil schon als Hekuba auftrat. Als Anna war sie ständig neben Dido, leicht und neckend, führend und fordernd konnte ihre Stimme klingen. Sie war Dienerin oder Trösterin, beides in berührender, wandlungsfähiger Art, in Stimme und Gestalt.
Berlioz‘ Männer waren alle nicht als große Helden vorgesehen, weder Choroebus, Kassandras Verlobter, gesungen von Sihao Hu mit weichem Schmelz, noch Aeneas. Im ersten Teil hatte er das Tagesereignis fast verschlafen, im zweiten schien er sich wie Tannhäuser „verliegen“ zu wollen, bis Erinnerungsgeist Merkur ihn an seine Sendung gemahnte, Rom zu gründen. Eine große Partie war das für einen Tenor, von Ji-Min Park bewundernswert durchgehalten.
Viele Partien gab es, deren Stimmungsgehalt das Kieler Philharmonische Orchester sorgsam, auch nuanciert unterstützte. Daniel Carlberg hatte bereits den musikalischen Erfolg der anderen Grands Opéra gesichert. Er tat es wieder.