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Greifende Power

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Die Donaueschinger Musiktage 2002
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Die Zeiten, in denen nach Gutsherrnart über einen guten oder schlechten Jahrgang in Donaueschingen befunden wurde, sind vorbei. Dass die Werke wie gekelterte Sorten abgeschmeckt werden und dann, wenn bei einigen Öchsle-Grad und alkoholisches Volumen den Vorkoster erfeuen, die Ernte als befriedigend eingestuft wurde, das gibt es heute nicht mehr. Es geisterte dieses Mal das Wort des Meisterwerks, das man an Deutschlands bedeutenster Stätte zeitgenössischer musikalischer Auseinandersetzung erwarte. Man kann vermutlich lange warten, nicht weil es keine Meisterwerke mehr gibt, sondern weil die Kriterien ihrer Einstufung dahingeschmolzen sind. Es sind heute in erster Linie die älteren Kritiker, die sich anschicken, Donaueschingen den Rücken zu kehren – und mit diesen die alten Wertekriterien. Ist das nicht im Grunde gut so? Denn sie hinterlassen keine leeren Stühle, da junges, unvoreingenommenes Publikum in Scharen nachdrängt.

Die Zeiten, in denen nach Gutsherrnart über einen guten oder schlechten Jahrgang in Donaueschingen befunden wurde, sind vorbei. Dass die Werke wie gekelterte Sorten abgeschmeckt werden und dann, wenn bei einigen Öchsle-Grad und alkoholisches Volumen den Vorkoster erfeuen, die Ernte als befriedigend eingestuft wurde, das gibt es heute nicht mehr. Es geisterte dieses Mal das Wort des Meisterwerks, das man an Deutschlands bedeutenster Stätte zeitgenössischer musikalischer Auseinandersetzung erwarte. Man kann vermutlich lange warten, nicht weil es keine Meisterwerke mehr gibt, sondern weil die Kriterien ihrer Einstufung dahingeschmolzen sind. Es sind heute in erster Linie die älteren Kritiker, die sich anschicken, Donaueschingen den Rücken zu kehren – und mit diesen die alten Wertekriterien. Ist das nicht im Grunde gut so? Denn sie hinterlassen keine leeren Stühle, da junges, unvoreingenommenes Publikum in Scharen nachdrängt. Organisator Armin Köhler hat diese Zeichen erkannt, vielleicht musste man ihn, auch innerhalb der entflammten Festivaldiskussion, auch etwas dorthin drängen. Ganz sicher ist sich ja keiner. Immer gibt es in der ästhetischen Auseinandersetzung Zeiten der Fülle, des Erntens, denen Zeiten der Verunsicherung, des Suchens, des Sähens folgen. Jammern über die Notwendigkeit des Suchens nützt nichts, ist es nicht eigentlich ein aufregend schöner Zustand? Nur muss ein Festival in solchen Perioden alte Häute und alte Hüte ablegen, es muss sich nackt und offen machen. Zeitgenössisches Musikfestival heißt eben nicht, dass man pflichgetreu den Termin erfüllt, es heißt, die gegenwärtige Lage zu analysieren und danach die Strukturen fürs Kommende festzulegen oder auszuprobieren.

Es war heuer in diesem Sinne ein Probefestival. Selten erlebte man so deutlich eine Flut von sich widersprechenden Beurteilungen, die beim gleichen Stück von unmöglich bis überragend tendierten. Das kennzeichnet einen schöpferischen Zustand. Wo es mehr Fragen als Antworten gibt, da kann man zu arbeiten anfangen. Die Musik, die musikalische Äußerung hören nie auf, solange der Mensch noch wahrzunehmen versteht. Man möchte mit Mahler antworten, der gegenüber dem an der Zukunft zweifelnden Brahms bei einem Spaziergang am Bach geantwortet haben soll: „Sehen Sie dort – die letzte Welle!“

Öffnung tut not und hierfür gaben die Donaueschinger Musiktage bestes Beispiel. Selten war die ästhetische Spannweite so groß wie dieses Jahr. Das lag unter anderem auch daran, dass die Jazz-Session (Reinhard Kager ist neuer Gestalter), die sonst fast schon gewohnheitsmäßig einer anderen Klientel vorbehalten blieb, sich dieses Mal experimentell ins Gesamtgeschehen integrierte. Mochte man dem eher stillen Duo Ikue Mori und Marina Rosenfeld, die mit Rhythmusmaschinen, Notebooks und altem Vinyl hantierten noch eine gewisse Verhaltenheit attestieren, so war Wolfgang Mitterers zweistündige Improvisation Radio Fractal/Beat Music mit erlesenen Mitakteuren wie Erdem Tunakan und Patrick Pulsinger (Electronics) oder den realakustisch sich integrierenden Max Nagl, John Schröder, dieb13 und Herbert Reisinger ein rundum kühner Gang durch in gleichmäßige Beat-Prozesse geschaltete klangliche Fremdwelten: hochmusikalisch, sensibel, mit spontan um sich greifender Power. Es sind musikalische Formen, denen sich das klassische Donaueschinger Publikum nicht entziehen darf (sonst wird es wirklich klassisch im Sinne von abgesegnet und ins Archiv gelegt).

Von hier aus gab es Spannweiten nach allen Seiten. Klaus Huber, 78-jährig, markierte einen Pol mit seinem Kammerkonzert für Violoncello-Solo, Baryton-Solo, Kontratenor und 37 Instrumentalisten „Die Seele muss vom Reittier steigen“. Gewiss, das fußte auf alter Ästhetik der Moderne, aber die Art, wie Klaus Huber Elemente arabischer Skalen feinhörig integrierte, wie er Bögen schlug zwischen dem frühen (islamischen) Aufklärer Avicenna (um das Jahr 1000!) und dem heutigen palästinensischen Dichter Mahmoud Darwisch, dessen hier verwendetes Klagegedicht 2002 in Ramallah entstand, das markiert eine ästhetisch stringente, innig ehrliche Position, die mitten im Heute steht. Der Altmeister eines bis in die Haarspitzen musikalisch verantwortlichen Tons hatte hiermit einen markanten Pfeiler in die Donaueschinger Landschaft dieses Jahres geschlagen.

Vielleicht war es die Tatsache, dass in vielen Werken (eine Leitlinie des heurigen Festivals) die menschliche Stimme in extremen Formen zum Einsatz kam, die die spagatartige Spannweite ermöglichte. Die Stimme ist immer noch vielfältigster und wandlungsfähigster Klangerzeuger. Sie ist A und O von Musik und schafft es immer wieder, den Ballast von vorprägend belastender Tradition anzustreifen. So hatte die Schwedin Karin Rehnquist in „Teile dich Nacht“ ein Chorwerk mit Solostimme (mit der formidablen Volkssängerin Lena Willemark) vorgelegt, das schrille, vibratolose Höhen des schwedischen Kulning-Singens mit der „Zivilisationsebene“ avantgardistischer Chortechniken auf Texte von Nelly Sachs konfrontierte. Rehnquist hat schon mehrfach mit Willemark zusammengearbeitet. Vielleicht mögen frühere Arbeiten dabei stichhaltiger ausgefallen sein, als dieses Donaueschingen-Stück. Doch ihr Bemühen, aus spontan empfundenen volksmusikalischen Singetechniken neue Kraftfelder für moderne Ausdruckstechniken zu erobern, blieb auch hier nachdrücklich spürbar.

All das waren Kompositionen, die gegen einen engen Regelkanon des Avantgardedenkens verstoßen hätten. Und hierzu gehörte gewiss auch George Lopez’ szenisches Orchesterwerk „Schatten vergessener Ahnen“. Der in Kuba geborene Lopez gehört sicher zu den schöpferischsten Musikern der Gegenwart. Er erfindet Klänge von erstaunlicher körperlicher Gewalt und Suggestionskraft, tief, rumorend, aus dem Bauch heraus und dennoch von intellektueller Trennschärfe gezeichnet. Dumm aber war die szenische Umsetzung, der läppische Tanz der Mädchen um den Götzen Dirigent, der als Schamane oder Voodoo-Zauberer verkleidet war. Letztlich wird sein (Rinder-) Schädel von Äxten in Stücke gehauen. Knochen splittern, die einst, das Hirn bergend, das Stück zum Gleichmarsch zwingen wollten.

Ja, Lopez, wir haben verstanden – aber muss das wirklich so ballettunterrichthaft aussehen? Seine Musik aber wird weiter rumoren, gereinigt von solch lapidaren bis peinlichen Zusätzen. Es sei denn, Lopez verfällt weiterhin auf solch drittklassigen Szenarien, die vielleicht in seinem Kopf in abgeschieden hoher Alpenluft, wohin er sich anachoretenhaft flüchtete, herumspuken. Dann aber war sie breitseitig voll da, die experimentelle Szene: in diesem Jahr, wie gesagt, die menschliche Stimme, teilweise in der Konfrontation mit Elektronik. Donaueschingen bot mit mehr als zehn Arbeiten in dieser Richtung einen ganzen Katalog künstlerischer Möglichkeiten. Manches warf nur Fragezeichen auf (Phillippe Broutin, Amanda Stewart, vielleicht auch die surreal gegen jeden professionellen Strich gebürsteten Aktionen von Jennifer Walshe), andere wiederum blieben in ihrem Rahmen, ohne aufregend neue Akzente zu setzen. So etwa der stupende Lautkünstler Jaap Blonk, Gerard Pape mit einer auskomponierten Himmels- und Teufels-Vision „The Ecstasy of St. Theresia“ oder Misato Mochizuki, die in „Ecoute“ fein ausgehörte, lichtgestütze vokale Klangaktionen entwarf. Auch Bernhard Langs Orchesterkomposition mit Loop-Generator (hier ohne Stimmen) „Differenz/Wiederholung 7“ replizierte (auf hohem Niveau) von ihm in dieser Reihe entwickelte Techniken ohne zwingend neue Aspekte hörbar zu machen. Spannender wirkte hier Alan Hilarios Stück „Phonautograph“ als Vermittlung alter Klangaufzeichnungstechniken mit Reaktionen von Stimm- und Posaunenklängen.

Der kompositorisch sehr reflektierte Julio Estrada wagte im Stück „Hum“ magische Gesten des Flüsterns und Murmelns, die über Live-Elektronik drastisch zu Klängen aus dem beschworenen Jenseits umgewandelt wurden: ein ausdifferenziertes Ritual. Und schließlich wartete Chaya Czernowin in „Maim zarim maim gnuvin“ (fremdes Wasser, gestohlenes Wasser) mit einer in expressiver Splitterklangtechnik (bis zum Zersplittern der Klänge) ausgeführten tief berührenden Reaktion auf politische Ereignisse der Gegenwart von Nahost bis zum New York des 11. September auf. Schärfere Akzente freilich setzten Michael Lentz und Zoro Babel im hochaggressiven, wutgestauten Stück „arcane dal marocco“ mit kreischenden Gitarren à la Jimi Hendrix, Josef Anton Riedl in „vollicht aust es sa, III“, einem virtuosen Reiz-Reaktions-Szenarium von Live-Aktionen und Video/Klang-Projektionen voller rhythmischer Finessen, Anspannung und beklemmend radikaler Attacke und schließlich Helmut Oehring mit dem Absurdum „Er.eine She“ (aus: 5ÜNF/Haare-Opfer). Hinter grinsenden Masken wie beim filmklassischen Banküberfall tauchten gesichtlose Gebärden auf, der Solocellist fungierte als fingernagelrotgelacktes Barock-Androgyn, die Musik (von gehörlosen Vokalisten) bewegte sich gleichsam in gedoppelter Surrealität zwischen Klängen der verzweifelten Leere und Stillen aufatmenden Glücks.

Die doppelte Surrealität wurde neue Wirklichkeit, packend und stark. Donaueschingen als Spektralfeld: Hier und heuer wurden Zeichen gesetzt, wie die Zukunft aussehen könnte. Denn eines muss Donaueschingen bleiben: einzigartig. Wir wissen, dass in letzter Zeit viele Festivals Neuer Musik erfolgreich heranwuchsen, die auf Ambiente, regionale Einbindung, Information vor Ort auf hohem Niveau bauen.

Das ist erfreulich, kann aber die Stätte des forschenden Probierens in großer Ausstattung nicht ersetzen. Von Donaueschingen wird auch in Zukunft zu erwarten sein, dass Komponisten, Musiker, Publikum, Kritik immer aufs Neue ins Offene schreiten.

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