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Andrea Shin – im Hintergrund Hrolfur Saemundsson. Foto: Carl Brunn
Andrea Shin – im Hintergrund Hrolfur Saemundsson. Foto: Carl Brunn
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Groß gemusterte Tapete für den großen Vater-Sohn-Konflikt – Verdis große Historien-Oper „Don Carlos“ in Aachen

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Frieder Reininghaus berichtet aus Aachen von der Premiere von Giuseppe Verdis „Don Carlos“ in der fünfaktigen Version. Die Aufführung hinterließ einen nicht so nachhaltigen Eindruck: „Transpositionen der Stoffe und Handlungen um Jahrhunderte und in andere gesellschaftliche Verhältnisse können ‚funktionieren‘, sind aber per se noch keineswegs eine Garantie für stimmiges Theater auf der Höhe der Gegenwart.“

Mit keinem seiner Werke hat sich Giuseppe Verdi so lange, intensiv und nachhaltig beschäftigt wie mit dem in mehrfacher Hinsicht monströsen „Don Carlos“. Bereits am Tag der Uraufführung der Oper in fünf ausladenden Akten, am 11. März 1867 in Paris, existierten drei Fassungen von der Hand des Komponisten. Kürzungen des überlangen musikalischen Materials, Ergänzung um das Ballett und Umarbeitungen in vielen Details bestimmten die zweite und dritte Version, zu denen für die zweite Vorstellung eine weitere Fassung hinzukam. Auch in den beiden folgenden Jahrzehnten war die Arbeitszeit Verdis nicht zuletzt von weiteren Bemühungen geprägt, nunmehr italienische Fassungen zu Wege zu bringen. Die hatten einerseits im real existierenden Theaterbetrieb praktikabel (also kürzer) zu sein, sollten andererseits der Größe und Tiefe der Vorlage, dem Dramatischen Gedicht „Don Karlos, Infant von Spanien“ von Friedrich Schiller [1787], mit den Mitteln des Musiktheaters gerecht werden.

Die Rezeptionsgeschichte hat die Mühen gelohnt: „Don Carlo[s]“ ist neben Rossinis „Tell“, Meyerbeers „Hugenotten“, den „Trojanern“ von Berlioz, Wagners „Götterdämmerung“ und „Parsifal“ ins Sextett der dauerhaften großkalibrigen Werke an prominenteste Stelle aufgerückt. Bühnenpraktisch durchgesetzt hat sich weltweit die 1882/83 nach grundlegenden Revisionen vollendete vieraktige, d.h. um den einleitenden Fontainebleau-Akt gekürzte Fassung in italienischer Sprache (sie wurde Anfang 1884 an der Scala in Mailand erstmals gegeben).

Die Genese des dramatischen Konflikts erschließt sich freilich nur durch den im Wald südlich von Paris und am französischen Hof spielenden 1. Akt. In ihm lernt der spanische Kronprinz die ihm zugedachte Verlobte Elisabeth von Valois – zunächst inkognito – kennen und lieben. Sein Vater Philippe II, wieder einmal Witwer geworden, beschließt jedoch überraschend, die Prinzessin aus politisch-dynastischen Erwägungen selbst zu heiraten. Der Sohn wird düpiert. In der mehr als hundert Jahre lang handelsüblichen und allgemein bekannten, von den Sängern aus nahe liegenden Gründen bevorzugten knappsten Version fehlt nicht nur fast die Hälfte der originalen Musik (diese wurde teilweise durch neu Komponiertes ersetzt), sondern in Gänze eben jene Exposition, die die ödipale Konstellation und die Motivationen der im Zentrum des Geschehens stehenden Personen skizziert – die fortdauernde Liebe des Infanten zu der Frau, die er jäh als die Gattin des Vaters und seine „Mutter“ anerkennen soll, die zunächst latente, dann offen wütende Eifersucht des Königs sowie die wohl mehr als nur formale eheliche Treue Elisabeths (auch um die Tragweite der aus nahe liegenden Gründen gegenläufigen Interessen der Prinzessin Eboli und die auf die große Politik gerichteten Interessen des Granden Rodrigo Marquis von Posa zu begreifen, ist der Frankreich-Akt zumindest hilfreich).

Deutlich wie kaum in einer anderen Oper wird in „Don Carlos“ das verhandelt, was Sigmund Freud als Ödipus-Komplex benannte. Die Komposition intensiviert bis zur bittersüßen Neige. Neuere Produktionen im In- und Ausland, die nicht nur auf die Highlights der Musik abheben, sondern aufs Drama, folgen nicht zufällig einer fünfaktigen Dramaturgie (zum Beispiel Ingo Metzmacher und Peter Konwitschny im Jahr 2000 in Hamburg, dann auch an der Staatsoper Wien, oder Antonio Pappano und Peter Stein 2013 bei den Salzburger Festspielen).

Selbst für große Häuser bleibt dieses „Hauptwerk des 19. Jahrhunderts“ eine besondere Herausforderung, gerade auch in der siebten und letzten Fassung von des Meisters Hand. Erst recht für ein Musiktheater wie das in Aachen mit seinen vorgegebenen beschränkteren Möglichkeiten. Doch kein Zweifel: Aachen schraubte die Erwartungen hoch, indem es die Aufführung der 1886 für Modena erarbeitete Version von „Don Carlo“ ankündigte. Es wundert nicht, dass sich die Sänger-Leistungen an einem in kostengünstige Zonen heruntergepegelten Theater weder als besonders homogen noch auf einem einheitlichen Niveau erwiesen. Durchgängig sauber, unangestrengt und brillant gelang keine der höchst anspruchsvollen Hauptpartien. Intensiv und anrührend interpretierte Woong-jo Choi den großen Monolog des Filippo II („Sie hat mich nie geliebt“). Hier begleitete das Orchester auch differenzierter und sensibler als über weite Strecken im Übrigen. Dass insgesamt sowohl das Zusammenwirken von Bühne und Graben präziser gelingt als auch die feineren Tinten der Partitur zur Geltung gelangen, steht ganz oben auf der Wunschliste an den Dirigenten Kazem Abdullah. Andrea Shin (Don Carlo) profiliert sich als solider Leistungsträger und mitunter deftiger Herausforderer des Vaters. Als durchwachsen, mit gelegentlichen Glanzparaden und verschiedentlichen Intonationseintrübungen, blieb das stimmliche Resultat von Sandra Radišic als Eboli in Erinnerung – dieser Prinzessin, die als Geliebte des Alten gerne die Frau des Jungen geworden wäre, in ihrer Enttäuschung dann maximalen Flurschaden anrichtet, wurde von Verdi die „dankbarste“ Partie zugeschrieben. Die punktuelle Nachdrücklichkeit, mit der die stämmige Irina Popova die Königinnen-Rolle auswuchtet, rückte die einer schönen jungen Frau zugedachte Partie unfreiwillig in die Zonen des Charakterfachs. Zumal die Parforce-Sopranistin Popova wie eine kleine Angestellte des mittleren 20. Jahrhunderts ausstaffiert und mithin der Insignien der Königinnenwürde entkleidet wurde.

Ein Einheitsbühnenbild bestimmt die Bühne. Man spielt den langen Abend lang, ohne dass dies in irgendeiner Weise als zwingend oder auch nur plausibel erscheint, in einem einzigen Raum fast ohne Modifikationen (das Werk empfing hingegen nicht zuletzt vom Ortswechsel seinen faszinierenden Kontrastreichtum). In Aachen hat es sein Bewenden mit einem im Wesentlichen leeren Raum, der mit einer großgemusterten altväterlichen Tapete ausgeschlagen wurde – hinten zwei Zugänge und vorn der Souffleurkasten, der durch einen Totenkopf zur Gruft des Großvaters, Karls V., mutiert. Während von sternklarer Nacht gesungen wird, steht zunächst ein Sofa einsam im Schneegeriesel. Vom Staatsforst südlich von Paris sieht man kein Zweiglein, geschweige denn die schönen alten Stämme. Also ist wohl das intendiert, was seit Jahrzehnten unverdrossen „psychologische Inszenierung“ genannt wird.

Doch auch die zeit- und raumenthobene Erkundung von Selenzuständen will nicht sinnfällig werden vor diesem Hintergrund der Abstraktion und Rekonkretisierung: Die Kostümierung des Königs in Ausgehuniform des spanischen Monarchen im 20. Jahrhundert, des Marquis von Posa als Roderich Müller-Lüdenscheid nach dem Muster der Loriot-Karikatur, der Hofdamen als Stewardessen der 60er Jahre und des von Eboli aufgestachelten Volkes als Spontanstreikende der Kiesinger-Ära signalisiert die Zeitverschiebung der Handlung von 1567/68 nach 1967/68. Dem sekundiert auch die Modernisierung der Bewaffnung: Aus dem Degen des Don Carlos wurde eine großkalibrige Pistole. Schwer vorstellbar bleibt freilich, dass – außer vielleicht im Reiche Kim il Sungs – der regierende Vater dem Sohn aus angeblich staatlichem Interesse die Verlobte auf die von der Historie und von Schiller vorgegebene Weise ausspannt (obwohl ein Viertel des in Aachen singenden Personals ostasiatische Wurzeln zu haben scheint, zumal die Männer-Riege, nahm Regisseur Michael Helle von der nahe liegenden Idee Abstand, die Handlung nicht nur um vierhundert Jahre sondern auch in eine ostasiatische Despotie zu verpflanzen). So verdichtet sich im Laufe der knapp vier Verdi-Stunden der Eindruck, dass es auf der Ebene der Bühnengestaltung und der den singenden Akteuren zugemuteten (oder gewährten) absurden Bewegungen in erster Linie um eine pflegeleichte Lösung ging, die sich vor den Herausforderungen des Historiendramas drückte.

Ob dies nun der Bildungsferne beziehungsweise Besinnungslosigkeit der Theatermacher geschuldet ist oder den Sparzwängen ihres Instituts, kann dahingestellt bleiben. Die sichtbare Tragödie nährt freilich den Wunsch, ein Moratorium für diese Art von Regie- oder Regisseurstheater ins Gespräch zu bringen – gäbe es nicht auch gelungene Theaterabende auf analoger Grundlage in der Theaterprovinz. Zum Beispiel gleich nebenan in Mönchengladbach. Dort verzichtete die Intendanz im Umfeld des Super-Gedenkjahrs auf die Aktivierung eines der bekannten und beliebten Verdi-Werke, ließ den äußerst raren „Stiffelio“ von 1850 ins Spiel bringen. Mit Plausibilität und Erfolg hat Helen Malkowsky das Stück vom Ehebruch der Gattin eines protestantischen Geistlicher aktualisiert, indem sie die Fragen von Liebe, Verführung und Treue ins Sektenmilieu verschob. Kurz: Transpositionen der Stoffe und Handlungen um Jahrhunderte und in andere gesellschaftliche Verhältnisse können „funktionieren“, sind aber per se noch keineswegs eine Garantie für stimmiges Theater auf der Höhe der Gegenwart.

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