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Novoflot in Basel, jetzt in Berlin. Foto: Novoflot
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„Große Koalition, eine außerparlamentarische Oper“ im Berliner Radialsystem V

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Bei „Große Koalition“ denkt der Bundesbürger an die erste Zusammenarbeit zwischen Ex-Widerstand und Ex-Nazi, an Brandt und Kiesinger von 1966 bis 1969. Aber die freie Gruppe Novoflot will den Begriff weiter fassen, als einen Handlungsentwurf für die politische Realität. In dem auf Johann Sebastian Bach fußenden, insgesamt leider sehr unsinnlichen Musiktheater-Abend klaffen Anspruch und Umsetzung weit auseinander.

Das im September dieses Jahres bereits im Baseler Gare du Nord vorgestellte Projekt benötigt in Berlin gleich zwei der Hallen des Radialsystems V. In der ersten Halle soll das Publikum stehend der Verkündigung auf einer in den Stuhlreihen der Tribüne aufgestellten Großleinwand folgen, dem als Farce wirkenden, aber wohl doch ernst gemeinten Gespräch zwischen der später auch live als Laiendarstellerin zu erlebenden Henriette Bothe und den Leitern des Zentrums für Karriereverweigerung im Haus Bartleby, Hendrick Sodenkamp und Anselm Lenz. Etwas verständlicher dann, was Bothe anschließend fehlerhaft von einem Zettel abliest, das per Loswahl erfolgte System politischer Ämter in der frühen Demokratie des alten Griechenland. Dies soll im anderen großen Saal, wo das Publikum auf Kartons sitzen darf, musikalisch spielerisch nachvollzogen werden. Zehn beliebig ausgewählte Besucher erhalten Wahlzettel, auf denen sie in jeweils drei Kategorien ihren Favoriten ankreuzen um „durch ihre Wahlkombination auf zukünftige Entwicklungen der Großen Koalition einzuwirken“, beispielsweise zur „Glühforschung“ (Wahl der Beleuchtungskörper), zum „Bacharchiv“ (Wahl der musikalischen Ausführung, instrumental, als Einzel- oder chorischer Vokalgesang) und zu „Grundeinstellungen“ („rasant / statisch / romantisch / engagiert / unterschwellig“).

Hochwertig ist die musikalische Darbietung des Lamento Project (den InstrumentalistInnen Catherine Aglibut, Claudio Puntin, Christian Gerber, Annette Rheinfurth), umschlagend von Bach zu Strawinsky. Die Schauspielerin Varia Sjöström und die Tänzerin Sylvana Seddig agieren in der Regie von Sven Holm zumeist formal, spießen die eingesammelten Wahlzettel auf, befüllen eine Luftmatratze, auf der sie später gemeinsam wippen werden oder betätigen einen Ventilator. In dem zentral mit allerlei nutz- und fragwürdigen Alltagsgegenständen auf weißen Kuben gefüllten Kunstraum (Bühne: Elisa Limberg) schraubt die dunkel timbrierte Sopranistin Yuka Yanagihara (in wechselnden Kostümen von Sara Kittelmann) abwechselnd Discoglühbirnen, Neonröhren, klassisch weiße oder gefärbte Glühlampen auf Lichtbretter.

Durch zahlreiche Minimal Aktionen wird die ohnehin breit angelegte szenische Aktion weiter in die Länge gezogen, etwa wenn der baritonal tönende Bassist Robert Koller Notenseiten, die im weiteren Spiel nicht benötigt werden, auf einem Homeprinter kopiert. Die einzelnen Wahlperioden werden von einer Schiedsrichterin auf Hochsitz eingeläutet und mit Anzeigetafeln „Widerlegen“, „Aussuchen“, „Aufladen“, „Überlagern“, „Aussuchen“, „Ablegen“ und „Antreten“ erläutert, oder – etwa mit „Wien Marianne“ – verunklart. Unklar bleibt auch der Einsatz „einer Expertin des sogenannten ‚Kreativen Statistikmanagements (KSM)’“, wodurch laut Programmzettel „ein Höchstmaß an objektiver Kontrolle garantiert werden kann.“

Eine Gruppe von Zuschauern wird zwischendurch aufgefordert, in den Nebensaal zu gehen, – doch was sie dort erfahren, bleibt nach ihrer Rückkehr ebenso dunkel, wie der Inhalt einer schier endlosen telefonischen Botschaft, den eine Zuschauerin durch einen alten, ihr angereichten Telefonapparat von einer Stimme am anderen Ende erfährt. Vielleicht war dies als Pendant zu einer „stillen Post“ ohne Auflösung zu verstehen, durch eine Darstellerin und zwei Zuschauer in einem Raucher-Kasten für Nichtraucher.

Unter der unsichtbaren musikalischen Leitung von Vicente Larrañaga ergeben sich manch klanglich originelle Momente für „die Band, die niemand kennt“ (Ankündigungstext) zwischen Violine, Violoncello, Klarinette Akkordeon/Bandoneon und Schlagwerk (Alex Huber), im gebrochenen Bachquartett wie im antithetischen Vokalduett, kaum jedoch durch die räumliche Positionsveränderung der InstrumentalistInnen. In Erinnerung bleibt eine hochwertige Jazz-Improvisation zwischen Bassklarinette und E-Gitarre, übernommen vom Schlagwerk, einem Sampler der E-Gitarre plus Klarinette und dem Unisono von Violine und Violoncello.

Jenen Zuschauern, welche die Notenanordnung auf den Musikerpulten beobachtet haben, musste auffallen, dass die behaupteten Wahlvorgänge den Ablauf des Abends in keiner Weise beeinflusst haben. Das mag Einstudierungs- und Ausführungsprozedere vereinfacht haben. Vielleicht auch wollten uns die Macher sagen, dass entgegen der Maxime „Alle Antworten machen weiter“ oder „Ende und kein Ende“ der Einzelne politisch doch nichts bewirken kann. Das wäre ein dürftiges und arg trauriges Endergebnis nach einem gut zweistündigen, pausenlosen Abend. Für Letzteres sprach auch der eher müde Applaus des Berliner Premierenpublikums, trotz einiger pointierter Bravorufe fürs Regieteam.

Novoflots Aufhänger für Musik- und Spielvorgänge erwies sich mehr als Therapie für die zwischen Rückzugs-Container und behaupteter Versuchsanordnung beteiligten DarstellerInnen als eine neue Erfahrung für die Besucher. Die erhielten gegen Ende ein „persönliches Koalitionsgeschenk“: Link und Passwort zu einem Erinnerungsvideo an diesen Abend.

  • Weitere Aufführungen: 3. und 4. Dezember 2016.

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