Als Kent Nagano nach einem Konzert mit Concerto Köln scherzhaft gefragt wurde, wann er denn einmal den „Ring des Nibelungen“ mit dem Orchester dirigieren werde, hätte wohl niemand gedacht, dass dies Realität werden würde. Richard Wagner und historische Aufführungspraxis, kann das funktionieren? Im November wurde nun in der Philharmonie Köln mit einer denkwürdigen Aufführung von „Das Rheingold“ Pionierarbeit geleistet.
Seit der Gründung des Projekts „Wagner-Lesarten“ durch Concerto Köln, Kent Nagano und die Kunststiftung NRW sind drei Jahre voll Forschung, Symposien und Podcasts vergangen. Das Ensemble, Träger zahlreicher Auszeichnungen und beteiligt an bedeutenden Einspielungen im Bereich der historischen Aufführungspraxis, begibt sich hier auf neues Terrain, ist es doch eigentlich in der Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts beheimatet. Zwar weitete sich das Repertoire aller historischen Ensembles in den vergangenen Jahren bis zur (Spät-)Romantik aus, doch sind entsprechende Gesamteinspielungen von Opern dieser Zeit weiterhin rar. Es dürfte angesichts des unglaublichen Aufwands nicht verwunderlich sein, dass es erst eines solchen Projektes bedurfte, ehe man sich Wagners Opus magnum in einer historischen Betrachtungsweise nähern konnte. Neben einer Fülle an zu studierenden Schriftstücken, Anmerkungen und Aufzeichnungen des Komponisten, seiner Assistenten und Auditoren, wurden mittlerweile ausgestorbene Instrumente rekonstruiert und die Deklamation in Theater und Oper des mittleren und späten 19. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt. Dass es bei einer Auseinandersetzung mit den Idealen Wagners nicht bei einem rein musikalischen Ansatz bleiben konnte, ist klar und spiegelt sich somit auch im breiten Spektrum der Beteiligten wider: Es finden sich neben Musikwissenschaftlern auch Musiktheaterwissenschaftler und Sprechwissenschaftler. Ein weiterer Kraftakt war jedoch auch die konkrete Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse. Die Realisation von Wagners eigenen Probeideen ist heute wie damals für jeden normalen Opernbetrieb jenseits aller Umsetzbarkeit. Das Projekt ermöglichte hingegen einen Einblick in die von ihm beabsichtigte Herangehensweise. Noch bevor überhaupt ein Ton gesungen werden sollte, waren reine Leseproben unter Beteiligung der Orchestermusiker vorgesehen. Es folgten rhythmisierte Sprechproben der Sänger – mit und ohne Klavierbegleitung –, Orchesterproben in Kleingruppen und schließlich im Plenum. Das erste konkrete Ergebnis dieses Projektes ist in jeder Hinsicht bemerkenswert.
Concerto Köln verfügt über eine gewaltige Bandbreite an dynamischen Differenzierungen und klanglichen Schattierungen. Neben den gleißenden, bombastischen und gewalttätigen Stellen, an denen es im „Rheingold“ gewiss nicht mangelt, sind es intime Augenblicke von eindringlicher Intensität, die durch die fabelhafte Gestaltung immer wieder für Gänsehaut sorgen. Wer hier das Schwelgen in Karajan-Orchesterklängen erwartet, wird allerdings enttäuscht. Wagner selbst ermahnte seine Dirigenten vor allem dazu, nicht stehen zu bleiben, sollte dadurch auch ein noch so schöner Effekt erzielt werden. Nicht die Musik, sondern die Handlung soll tonangebend bleiben. Das Orchester wird, ganz im Sinne des Komponisten, zu einem weiteren wissenden Teilnehmer des Ganzen, weder reiner Begleiter noch Hauptakteur.
Zum Einsatz des Vibratos, einem anhaltenden Konflikt der historischen Aufführungspraxis, wurde eine überzeugende Lösung gefunden. Anhand von Aufnahmen des frühen 20. Jahrhunderts wurden Gestaltungsmittel in ihren jeweiligen Zusammenhängen ermittelt; von dem heute beinahe üblichen Dauerzittern auf jedem Ton ist dort noch nichts zu hören und selbst bei Instrumentalsolisten der Wagnerzeit war das Dauervibrato eine geächtete Unart. An den rechten Stellen eingesetzt, das zeigte die Kölner Aufführung, ist es vielmehr ein besonderes Ausdrucksmittel.
Die Sängerleistung ist von allen Beteiligten großartig und reicht von glasklaren Belcanto-artigen Linien bis hin zu beinahe gesprochenen Passagen. Grundlage hierfür bilden Aufzeichnungen sowie das Lehrbuch „Deutscher Gesangs-Unterricht“ des Wagner-Assistenten und Gesangslehrers Julius Hey. Es beinhaltet neben der Lehre einer schönen, am Belcanto angelehnten Tongebung auch eine noch heute verwendete Schule des Sprechens und ist somit eine wichtige Quelle zu der von Wagner intendierten Art des Singens. Erstaunlich ist, wie viel Drama trotz der konzertanten Aufführung alleine auf Grund der hohen Textverständlichkeit geboten wird; selbst im Trio-Gesang der Rheintöchter bleibt jedes Wort präsent.
Zu hören ist jedoch kein zwanghaft gegen den Strich gebürsteter Wagner; Klangrausch bleibt Klangrausch, wenngleich ein mancher in der neuartigen Transparenz gewiss die ein oder andere Entdeckung machen wird. Alles erscheint als eine logische Konsequenz aus Wagners Ideen-Kosmos. Die oft sehr trockenen theoretischen Ergüsse werden zu einem anschaulichen Bild seiner revolutionären Gedanken. Zu hören ist ein „Rheingold“, das jenseits von Sentimentalität und falschem Pathos, zugleich fern von Akademismus und Kratzbürstigkeiten zu einer neuen Sichtweise und Auseinandersetzung mit Wagners Schaffen einlädt. Mit Neugier kann man auf die weiteren Teile, Symposien und Podcasts warten.