Nach der Zwangspause zu Beginn des Jahrzehnts hat das Festival d’Aix-en-Provence 2022 wieder volle Fahrt aufgenommen und Anfang Juli ein gutes halbes Dutzend neuer Produktionen im Hof des ehemaligen Erzbischofspalasts, im neuen Grand Théâtre de Provence und zwei weiteren neu erschlossenen Nebenspielstätten angeboten. Directeur Pierre Audi sorgte für ausgewogenes internationales Flair in einer politisch hellhörigen Zeit, hielt aber die Inszenierungen frei von aktuellen Bekundungen. Mit zwei Uraufführungen und einer markanten szenischen Kreation wurde der Anspruch auf europäische Marktführerschaft unterstrichen.
Mozarts „Idomeneo” als Japanoiserie
Das altgriechische Narrativ vom Kreterfürsten Idomeneo wurde von Satoshi Miyagi ins Neujapanische transponiert. Das kann dem Mythos nicht sonderlich viel anhaben, da er in einer langen Ex- und Importgeschichte bereits mehrfach umgetopft wurde. Er ist geduldig und von großer Güte – er erläutert eine der Kardinalstugenden der europäischen Zivilisation: die Ächtung des Menschenopfers.
Auf hohen Podesten werden die in Troja erbeutete Prinzessin Ilia, die auf Kreta um eine eheliche Verbindung mit dem Thronfolger Idamante bemühte Elektra, dieser Kronprinz und der dem Sturm vor der heimischen Küste entkommende Vater, der Inselkönig, hereingefahren. Auf ihrer jeweiligen Plattform verharren sie allemal wie Säulenheilige. Von ihr aus können sie – aller theatralen Inanspruchnahme enthoben – die durchweg wohltönenden Stimmen erklingen lassen. Zuvorderst Sabine Devieilhe mit glockenhellem blitzsauberem Sopran.
Die mobilen Bauteile sind mit durchscheinender Verkleidung versehen und erinnern an das Design japanischer Hotelfoyers. Fast durchgängig werden sie von Lemuren, Chorist*innen und Tänzer*innen, mit Hand- oder Ganzkörpereinsatz in Bewegung gehalten. So kommt auf nicht ganz einsichtige Weise in die sterile Statuarik, die sich gedanklich wohl fernöstlichen Theatertraditionen verbunden weiß, eine abwechslungsreiche Geschäftigkeit. Die Problematik des Menschenopfers deuten japanische Weltkriegsveteranen an, die auch an den mit taktischem Geschick eroberten Tigerberg erinnern.
Raphaël Pichon lässt das Instrumentalensemble Pygmalion die Partitur geschmeidig ausmusizieren. Das Klangrederesultat wirkt in der Archevêché – open air – introvertiert und geschmäcklerisch: wie das leise Sprechen von Leuten, die besondere Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Erst mit dem furiosen und elektrisierenden finalen Elektra-Auftritt von Nicole Chevalier wird das Premierenpublikum unter dem dunkelsamtenen Himmel der Provence aus der schläfrigen Reserve gelockt. Lange nach Mitternacht.
Raus oder rein mit Rossini
Am folgenden Tag gehört die Spielfläche im Hof des alten Bischofspalasts zunächst zur Hälfte den Notunterkünften von Flüchtlingen und der Büroausstattung eines modernen Regierungssitzes. Später mal mehr der einen bzw. anderen Seite in einem uralten religiös-politischen Konflikt: Mose und die Kinder Israels contra Altägypten und dessen Sklavenhaltergesellschaft. Berichtet wird er originär vom Buch Genesis. Rossini versah ihn im frühen 19. Jahrhundert mit einer Musik, die einerseits seinen freiheitsdurstigen „Tell“ ankündigt, andererseits den Gebeten von Moïse und dessen Gefolgschaft die breitesten Räume zugesteht.
Michele Mariotti lässt Soli und Chor inbrünstig, demütig und begehrlich beten, gelegentlich aber auch die orchestrale Kavallerie ausrücken. Im Auftrag von Regisseur Tobias Kratzer planen Staatspräsident Pharaon und sein Stab, wie sie die hebräischen Migranten übern Tisch ziehen können. Die billigen Arbeitskräfte wehren sich mit der Kraft des Glaubens. Die wird nicht durch Berge begrenzt, sondern gelegentlich durch musikalische Versetzungszeichen bei a-cappella-Modulationen. Mit dem Hinweis auf die Überlegenheit der Gottheit eines geschundenen Volks bricht die ägyptische Finsternis an: Die Herrenmenschen werden von heftig irritierenden Sehstörungen befallen.
Die übrigen Drohungen des mit einem rohen Knüttel hantierenden Gehorsams- und Freiheitspredigers im Kaftan und die mit seiner Hilfe heraufbeschworenen Plagen werden per Video ins Bild gesetzt: Dürre, Stürme, Feuersbrünste und Überschwemmungen. Dass die Gesetzgebungsepisode der optischen Übermacht der Naturkatastrophen zum Opfer fällt, erweist sich als Kollateralschaden der Inszenierung. Mit größtem stimmlichem Nachdruck entscheidet sich Jeanine de Bique, die zwischen die Fronten geratende jugendliche Liebhaberin, für Moses, die Familie und den nunmehr in Regeln gefassten einzig richtigen Glauben. So schwer es fällt.
Gleichfalls mit virtuosen Koloraturen wirkt Vasilisa Berzhanskaya als Präsidentengattin mäßigend auf ihren Mann ein, mehr noch auf ihren rache- und kriegslüsternen Sohn. Doch kann sie die Flucht der Boatpeople und den Untergang der herrschenden Klasse in den mit Filmeinblendungen virtuos heraufbeschworenen Meeresfluten nicht aufhalten. Ganz geht Kratzers Umkehrung der Migrationsgeschichte zwar nicht auf. Aber sie verpasst dem auf die oratorische Tradition des 18. Jahrhunderts bezogenen Werk mit der abschließenden Badestrandszene nochmals eine Kopfnuss: Die Geretteten sind unter blau-gelben Sonnenschirmen in der Konsum- und Freizeitgesellschaft angekommen. Das Beten hat sichtlich geholfen.
Eine hitzige und zugleich unterkühlte Salome
Ingo Metzmacher lässt das Orchestre de Paris in die Vollen greifen. Er steuert den scharfzüngig beredten, betörenden und überwältigenden „Salome“-Sound des Grabens hoch aus. Aber durchaus auch mit Gespür für die Delikatesse von Bläser-Soli oder das Versinken der Bühnenstimmen in der volltönenden quasi-vorderorientalischen Musiknachtstunde.
Die weibliche Potenz von Oscar Wildes Salome wurde mit der Musik von Richard Strauss expressionistisch pointiert. Während der Dirigent seine Sache mit werktreuem wachem Geist durchzieht, verabreicht die Lesart der Regisseurin Andrea Breth deftige Hausmannskost. Vorsätzlich höchst unerotisch aufbereitet erscheint die bleiche Prinzessin. Dabei bringt Elsa Dreisig nicht nur das stimmliche Potential mit, das Männern die Köpfe verdrehen kann. Aber das mag Breth nicht zeigen: Die Charakterregisseurin gönnt es der Jungen nicht.
Nach dem kurzen Ausblick einen den vom jungen Offizier Narraboth angehimmelten deutsch-romantischen Mond eröffnet sich wüstes Bühnenland. Auf dem stapfen Männer in Soldatenmänteln des 20. Jahrhunderts und tun sich Gräber auf. Das lässt schon das Schlimmste befürchten. Doch dann eröffnet sich in Anlehnung an altmeisterliche Malerei eine Abendmahlstafel. An ihr trinkt und fröstelt John Daszek als Herodes. Angela Denoke spinnt als vorzügliche Herodias die Fäden der Intrige. Die fünf Juden verstricken sich kontrapunktisch, die beiden Nazarener geraten in verzückte eschatologische Naherwartung und das Haupt des Jochanaan ragt aus einem runden Loch im Tischtuch, um der Königin ihre Sünden unter die Nase zu reiben und das Kommen des Herrn anzukündigen.
Das ist eines der stärksten Theaterbilder der Saison. Folgerichtig geht es mit fortschreitendem Abend aus den Fugen. Den Schleiertanz unterhöhlt Breth im Sinn ihres Erotik-Verweigerungskurses ebenfalls konsequent. Der Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt zitiert Bildmotive surrealer Alpträume von Alfred Kubin, der derzeit im Wiener Museumsquartier umfassend gewürdigt wird. Der fahle Mond kehrt wieder und die Silberschale für den abgeschlagenen Kopf wird durch einen Plastikkübel ersetzt. Salomes Liebe zu den Lippen des Propheten und ihr Leben enden in einem schäbig gekachelten verranzten Schlachthaus.
Mahler-Exhumierung
„O glaube: Du wardst nicht umsonst geboren“, verkündet die Sopran-Solistin Golda Schultz mit den hochtönenden Worten Gustav Mahlers. „Hast nicht umsonst gelebt, gelitten“. Sie tut dies in einem Ambiente, das für die Region Marseille ebenso charakteristisch ist wie der Wille zu verbesserter Infrastruktur und neuen touristischen Attraktionen. Für das Festival d’Aix wurde eine den ursprünglichen kommunalpolitischen, sozialen und volkskulturellen Zwecken abhanden- und elend heruntergekommene Salle polyvalente im Vorort Vitrolles reaktiviert.
An einem Ort, der als Ziel für einen ziemlich authentischen Ausflug zu Dantes Inferno geeignet wäre, schwitzen sich das Orchestre de Paris, dessen Chor und Jugendchor samt Dirigent Esa-Pekka Salonen durch Mahlers Zweite Symphonie und deren erlösungshymnisch schwülen Text. Der wurde bereits zwei Jahrzehnte nach der Uraufführung durch die „Materialschlachten“ in Flandern, an der Somme und vor Verdun gründlich desavouiert: „Sterben werd' ich, um zu leben! / Aufersteh'n, ja aufersteh'n wirst du, / Mein Herz, in einem Nu!“
Die toten Großväter der Weltkriege sind gründlich tot, trotz der Kriegerdenkmäler selbst in entlegenen Dörfern. Sie sind in Vergessenheit geraten und geblieben – sie haben eben welthistorisches Pech gehabt. Romeo Castellucci lässt zunächst einen stattlichen Schimmel auf der mit dunklem Humus bedeckten Bühne Pfützenwasser trinken, bevor die Erde ihre dunklen Geheimnisse preisgibt: Massengräber. Die Überreste der Toten aller Arten werden mit der aus Film und Fernsehen bekannten Choreographie von Spezialisten in einschlägigen Schutzanzügen exhumiert und in UNHCR-Fahrzeugen abtransportiert. Die vom romantizismengenährten Tonsatz grundierte Zeremonie redet einem Publikum ins Gewissen, das keine Anzeichen von Kriegsbegeisterung oder Mordlust erkennen lässt. Die Einrede erfolgt nonverbal, mit der Suggestionskraft und agitatorischen Wirkung von redundanten Bildern.
Im extremen Kontrast zur zeitgebunden schönheitssüchtigen Musik, die einem humanitätsgläubigen Fin de siècle entsprang, verweist die Kriegsgräberfürsorge in ihrem Willen zu genauer Verortung auf zeitlose Aspekte der von den Betroffenen hinzunehmenden Kriegsfolgen. Die Täter, die die Opfer „produziert“ haben, bleiben in der Regel straffrei. Da kann das Theater noch so gründlich zu erhabenem Soundtrack buddeln lassen.
Dante-Fortschreibung und ein Fraueninterview
Auch weitergehend gab es noch Archäologisches. Der Jubiläums-Dante des Jahres 2021 wurde mit zehnmonatiger Verspätung von Ravenna nach Aix einbestellt. Gestützt durch eine universitäre Arbeit von Christel Loetzsch, die auch die Mezzo-Partie des Jungen Dante singt, arrangierte Frédéric Boyer sieben Häppchen zu Leben und Werk von Dante Alighieri in Italienisch – vom Aufbruch aus dunklen Tiefen eines durch Trunkenheit verursachten Autounfalls auf einer Holperstrecke im nächtlichen Wald zur Grand Tour mit dem römischen Dichter Virgil, von der poetischen Verarbeitung der Liebe zur unerreichbaren Beatrice in den Gedichten „La vita nuova“ in einem gepflegten Studierzimmer zum Limbo, dem Eingang zur Unterwelt, zu mehreren Höllenkreisen und dem Purgatorium ins himmlische Licht des Paradieses der „Divina commedia“. Alles sehr schön bebildert von Étienne Pluss und trefflich ausgeleuchtet von Fabrice Kebour.
Pascal Dusapin hat unter Rückgriff auf eigene frühere Arbeiten „Il viaggio, Dante“ mit Musik versehen, die sich zu keinem Zeitpunkt als ernsthaftes Reisehindernis erweist und von mancherlei Klangerfahrung des 20. Jahrhunderts kündet. Aus tiefem Grummeln steigt sie auf und entwickelt, unter Einsatz von Orgel-Mixtur und Glasharfen-Schärfen, ein Faible fürs Abheben in große Höhen und faszinierende Raumklänge. Sie wirkt angenehm routiniert, mitunter behaglich, nie provokativ. Sie trägt der alten Spruchweisheit Rechnung: „I veri viaggiatori possiedono l’arte di dominare il tempo“.
Kent Nagano, Chor und Orchester der Opéra de Lyon prozessieren die Vielgestaltigkeit der Dusapinschen Verbeugung vorm Mythos Dante mit gebührendem Elan und Sinn für Raumklangwirkungen heraus. Das Uraufführungspublikum applaudierte respektvoll. Es mag sich insgeheim gedacht haben: Wenn’s in der Hölle und im Purgatorium nicht heftiger und ungemütlicher zugeht, dann mag man der letzten Reise gelassen entgegensehen. Offensichtlich hat Musik hier wieder einmal ihre uralte Trostfunktion vorzüglich erfüllt.
Und noch eine Uraufführung: Bushra El-Turks „Woman at Point Zero“. Fast ein halbes Jahrhundert ist die literarische Vorlage von Nawal El Saadawi alt. Es handelt sich um eine als Dialog zweier Frauen gestaltete Empörung über patriarchalische und brutal repressive Verhältnisse im Ägypten des 20. Jahrhunderts. Ausnahmslos erscheinen Männer als fundamentalistisch-religiös rückständige und prügelnde Väter, die sich selbst vollfressen und die Kinder verhungern lassen; als böse Onkels, die falsche Versprechungen machen und Jungfrauen schänden; als Laufhausfreunde und Besucher von Nobelprostituierten; als heuchlerische und im entscheidenden Moment doch frauenverachtende und gewalttätige Frauenversteher; als Revolutionäre, die sich an Massenvergewaltigungen beteiligen und so weiter.
Die Homophonie des Librettos ist nicht besonders gut geeignet, einen dramatischen Konflikt auf der Bühne interessant zu machen. Leise Zweifel bleiben berechtigt, ob die Einfügung wenigstens eines etwas weniger verachtenswerten Passanten männlichen Geschlechts in das Agitationsmuster den politisch-gesellschaftlichen Realitäten und dem Anliegen der Komponistin nicht dienlich hätte sein können. So aber sekundiert die mit vielerlei Einblendungen von Alltagsgeräuschen angereicherte Kammermusik der zwei Sängerdarstellerinnen und des siebenköpfigen Ensembles, das orientalische und europäische Instrumente bedient, einem Bekenntniswerk, das das Totschlagen von männlichen Nötigern rechtfertigt. Vielleicht als pädagogische Maßnahme oder so.
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Pierre Audi hat 2022 in Aix ein breites Spektrum teils hochkarätiger Opern-Produktionen serviert – ohne Exkursionen in heitere, komische oder gar satirische Gefilde. Die Komposition des internationalen Menus, das auf Russisches verzichtete und sich in den Design-Farben an der Staatsflagge der Ukraine orientierte, weist einen Überhang an religiösen Themen auf und appelliert an eigentlich selbstverständliche Humanitätsstandards. Es ist, als werde das Pilotprojekts vom guten Willen getragen, das Musiktheater in unübersichtlicher Zeit als eine im Wesentlichen moralische Anstalt zu kultivieren. Was die Innovationskräfte betrifft, fällt die Prognose weniger optimistisch aus.