Die Tage Alter Musik verwandelten die Regensburger Altstadt am Pfingstwochenende einmal mehr in ein Mekka historisch-lebendiger Aufführungspraxis.
Großes Kino und ein Zaubergeiger: Tage Alter Musik Regensburg 2024
„Kennen Sie die Geschichte von Scylla und Glaucus? Nein? Macht nichts!“ Wer die kurze englische Ansage von Théotime Langlois de Swarte verstand – unverstärkt in einer Kirchenakustik eher schwierig – wusste Bescheid: Es ist okay, nicht Bescheid zu wissen. Die Farbigkeit von Jean-Marie Leclairs Ouvertüre zu seiner einzigen Oper sprach ohnehin für sich. Der französische Geiger mit dem klingenden Namen versprühte an der Spitze des vitalen Barockorchesters Les Ombres eine derartige Virtuosität und Spiellaune, dass es einem den Atem verschlug. Die aberwitzigen Soloparts der Vivaldi-Konzerte RV 384 und 179a („Per Anna Maria“) fetzte er mit einer Nonchalance hin, dass es eine wahre Freude war. Neben der Sauberkeit der Intonation, der Fingerfertigkeit und Gewandtheit der Bogenführung ist es vor allem auch die Variabilität der Klanggebung, die bei ihm fasziniert. Die Abstufungen vom Non-Vibrato bis hin zu einem Aufblühen in purer Tonschönheit bringen seine Interpretationen zum Sprechen, heben sie über den Durchschnitt weit hinaus.
Noch verblüffender war dann Langlois de Swartes Auftritt mit seinen drei Kollegen von Le Consort. Das Quartett mit Sophie de Bardonnèche an der zweiten Violine, Hanna Salzenstein am Cello und Justin Taylor am Cembalo machte in den Sonaten von Antonio Vivaldi und Giovanni Battista Reali (tolle Musik!) mehr Alarm als so manches anämische Barockorchester in Großbesetzung. Auf diesem Niveau des fein austarierten, dabei wie improvisiert wirkenden Zusammenspiels bekommen sogar zwei Pack La-Follia-Variationen wieder ihre Frische zurück.
Das Fieri Consort, ein weiteres A-cappella-Ensemble aus Großbritannien, hatte unter anderem englische Fassungen von italienischen Madrigalen (Ferrabosco, de Rore, Palestrina u.a.) im Gepäck. Diese zündeten in den ausgefeilten, aber eher distanzierten Darbietungen nicht so recht. Besser klappte das bei William Byrd und bei Philippe de Montes eindrucksvollem „Super Flumina Babylonis“.
Ganz großes Kino waren die Florentiner Intermedien zu „La Pellegrina“ von 1589. Auch wenn der mythologische Bühnenzauber in dieser konzertanten Aufführung fehlte, so gelang es den vier beteiligten Ensembles unter der Leitung von Eduardo Egüez doch, einiges von der Faszination zu vermitteln, die seinerzeit von diesem Spektakel ausgegangen sein muss.
Mal lag der Schwerpunkt auf den Saiteninstrumenten des Ensemble La Chimera, mit der hervorragenden Geigerin Margherita Pupulin an der Spitze, mal bei den Bläsern von I Fedeli, bei denen Josué Meléndez unter anderem am Zink den Ton angab. Solistisch ließ Alicia Amo ihren Sopran unter anderem als personifizierte Harmonie und als Zauberin mit üppigsten Verzierungen erstrahlen. Als Einspringer überzeugte Valerio Contaldo mit tenoraler Jupiter-Power, elektrisierte aber vor allem als Arion in einer wunderbaren Nummer, in der zwei weitere Tenöre ihm als Echos mit Stereo-Effekt aus dem Off antworteten.
Die Sänger von Voz Latina brillierten in wechselnden Besetzungsstärken und trugen als olympische Musen im Wettstreit mit ihren Herausforderinnen, den Pieriden, nicht nur gemäß der Handlung dieses zweiten Intermediums den Sieg davon. Das Vokalensemble NovoCanto fiel dagegen etwas ab, war aber in den häufig am Ende eines Blocks zu großen Massenwirkungen gesteigerten Nummern ein Garant für exquisite Klangfülle.
Erstaunliche Massenwirkungen und Klangfülle entwickelte auch die Capella Cracoviensis mit ihrem nur 16-köpfigen Chor in Händels „Samson“. Orchester und Solisten brauchten etwas Anlaufzeit, zogen das Publikum mit ihrer durchaus dramatische Züge annehmenden Lesart aber immer stärker in den Sog des groß angelegten Oratoriums. Die weiblichen Partien waren mit Rebecca Bottone (Dalila) und Joanna Sojka (Philisterin u.a.) etwas stärker besetzt als die männlichen. Zbigiew Malak (Samson), Xavier Sabata (Micah), Robin Bailey (Philister u.a.) und Lisandro Abadie (Manoa u.a.) steigerten sich jedoch wie die Aufführung insgesamt zu einer am Ende packenden Intensität. Das lag auch an Dirigent Jan Tomasz Adamus, der auf rasche Anschlüsse der Nummern und scharfe Instrumentalkonturen setzte.
Den einzigen Ausflug jenseits des Barock unternahmen die Tage Alter Musik mit einem Beethoven-Programm der Kölner Akademie. Unter der Leitung von Michael Alexander Willens feuerte das mit 33 Musikern angereiste Orchester die Ouvertüre zu den „Geschöpfen des Prometheus“ gehörig an und war dann ein aufmerksamer Mitgestalter in den Klavierkonzerten drei und vier.
Der noch nicht einmal dreißigjährige Pianist Tomasz Ritter erwies sich als reifer Solist mit erstaunlicher Artikulationsklarheit selbst im vertracktesten Passagenwerk. Der Möglichkeit, auch leisere Anschlagsnuancen wahrzunehmen, gerade in den langsamen Sätzen, setzte leider die Akustik der Dreieinigkeitskirche deutliche Grenzen. Seinen eigensinnigen Gestaltungswillen bewies Ritter dann noch in der wahrscheinlich verstörendsten Zugabe in der Geschichte des Festivals: Schuberts „Doppelgänger“ in der Liszt-Transkription. Alte Musik als bleicher Geselle? In Regensburg sicher nicht.
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