Ein einsamer gellender Buhruf aus den ersten Reihen des Festspielhauses, mitten in der leisen Verklärungsmusik von „Tristan und Isolde“, war eine besonders störende, spontane Missfallensäußerung eines Besuchers, da Isolde nicht mit Tristan gemeinsam sterben darf, sondern durch Marke vom Todeslager ihres Geliebten weggezerrt wird. Möglicherweise aufgrund dieser Störung kam die Regisseurin dann beim Applaus nicht allein vor den Vorhang, sondern verneigte sich nur gemeinsam mit ihren Darstellern auf der Bühne, wo sich dann starke Missfallensbezeugungen in den begeisterten Zuspruch mischten – zu Unrecht, denn die Weiterarbeit an ihrer Inszenierung zeigt Katharina Wagner als Meisterin in ihrem Fach.
Ihre Beharrlichkeit, Barrie Kosky zur Annahme des Regieangebots für die „Meistersinger“ zu überzeugen, zeichnet Katharina Wagner ebenso als Festspielleiterin aus wie die außerordentliche Qualität der musikalischen Besetzungsentscheidungen der ersten drei Abende dieses Festspielsommers. Gerade angesichts der aktuellen Rückblicke auf Wieland Wagners Schaffen und die zahlreichen Fehlurteile damals bedeutender Kritiker, erscheinen die ungewöhnlichen konzeptionellen und manche verstörenden Details dieser Regisseurin auf der Höhe der Zeit, wenn nicht sogar richtungweisend. Dabei knüpft Katharina Wagner tatsächlich stärker an ihren Onkel als an ihren Vater an. Auch für sie ist Inszenieren dem Interpretieren gleichgesetzt, hinzu kommen bei ihr Erfahrungen mit Regiearbeiten lebender Regisseure, von Neuenfels und Marthaler bis zu den Kollegen der jüngsten Kritikergeneration. Intermedialität, Assoziationsketten und Polysemantik sind bestimmend für ihre Stilistik.
Aber in ihren Arbeiten ist darüber hinaus das Primärschema der Spielvorlage stets noch deutlich erkennbar. So sieht sie die „Tristan“-Handlung im Lichte Randle McMurphys: Die radikal in die Gegenwart versetzte Liebesbeziehung wird – entgegen allen Widerständen jener, die es besser zu wissen glauben, wie Brangäne und Kurwenal –leidenschaftlicher ausgelebt als je zuvor. Da sind Todes- und Liebestrank (wie erstmals bei Wieland Wagner) nicht mehr erforderlich, um eine der ungewöhnlichsten Liebesbeziehungen zu definieren, aber hier wird es für den Zuschauer überdeutlich gemacht: Mit voller Absicht verschütten die Beiden den Trank und zerreißen den Hochzeitsschleier ebenso symbolisch wie als einen Akt der Provokation gegen die durch König Marke und seine gelbe Mannschaft verkörperte Staatsgewalt.
Deren Machination ist im Lichte heutiger Erfahrung in der Realität und Umsetzung in (Film-)Kunst um ein Vielfaches brutaler als im 19. und noch zu Ende des 20. Jahrhunderts. Die Versuche des Liebespaares, sich außerhalb dieser Welt zu definieren oder eine eigene Weltordnung der Liebe zu schaffen („selbst dann bin ich die Welt!“) werden im totalen Überwachungsstaat der Sadisten und ihrer Käfige ad Absurdum geführt. Den Liebenden und ihren Vertrauten wird immer wieder die Unmöglichkeit demonstriert, diesem Überwachungssystem zu entfliehen, da alle scheinbaren Fluchttreppen zerbersten. Vor seiner angeordneten Hinrichtung wendet sich Tristan mit verbundenen Augen an Isolde, welche gar nicht mehr zugegen ist, da sie bereits von Marke weggeführt wurde.
Auf solche Weise deutet die Regisseurin mittels zugespitzter Zeichnung von Folter und Inhumanität eine Problemstelle in Wagners Spielvorlage: Jene Frage, warum Isolde nach Tristans tödlicher Verwundung ihm nicht auf die Burg seiner Väter folgt, sondern an Markes Seite als dessen Gemahlin lebt, wird hier durchaus humaner als noch von ihrem Urgroßvater gedeutet, der damit einerseits der Vorlage bei Gottfried von Straßburg folgte, andererseits aber auch aus eigener leidvoller Erfahrung davon ausging, dieses Verhalten zeige eine typisch weibliche Inkonsequenz.
Ähnliches passiert mit Markes großem Monolog, der jenseits von Larmoyanz und Selbstmitleid sich scheinbar an Tristan, hier aber anklagend an Isolde richtet, die von Melot immer wieder an ihren langen Haaren hochgezogen und nicht nur gezwungen wird, den Ausführungen des ungeliebten Gemahls zuzuhören, sondern auch ihn öffentlich oral zu befriedigen. Und Tristan bekommt nicht einmal die Möglichkeit, seinen angekündigten Suicid auszuführen, sondern wird satt dessen vom opportunistischen Ex-Freund Melot (Raimund Nolte) von hinten erstochen.
Wie seit der Bayreuther Regiearbeit von Jean-Pierre Ponnelle mehrfach inszeniert, ist das Erscheinen Isoldes an Tristans Krankenlager nur eine dem Todkranken vorgegaukelte Illusion. Zuvor wird Tristan sein eigenes Grabkreuz als vermeintliches Heldenschwert gereicht. Der Hirt (stimmlich gewachsen: Tansel Akzeybek) spielt keine Schalmei, sondern hantiert mit einer dem Instrument ähnlichen Lilie an Tristans präsumptiver Grabstelle.
Und in einer elfteiligen Sequenz belebter pyramidaler Räume entwickelt die Regisseurin eine surreale Bilderfolge, böse Fiebervisionen rund um Tristans ferne Geliebte. Am Ende kommt es dann doch noch zu einer realen, aber sehr formal gelösten tödlichen Auseinandersetzung der Getreuen um Tristan mit den Vasallen des Königs. Marke straft Isolde nunmehr, indem er die an sie gerichteten Worte dem toten Tristan erzählt und seine Gattin dann vom Toten wegschleift.
Das mag angesichts der balsamischen Stimmführung des Bassisten überspitzt wirken, zeigt aber, wohin es führt, wenn unerwiderte Liebe und Eifersucht einen Mächtigen verleitet, seine Gefühle skrupellos umzusetzen. Diese bewusste Diskrepanz funktionierte mit dem stillen inneren Widerstand von Georg Zeppenfeld besser als nun mit dem samtenen, aber etwas zu gleichförmig singenden René Pape.
Ein verzweifelt für sein Rechtsempfinden kämpfender Kurwenal, dem die Erfahrungen mit der Gestaltung des Wotan im besten Sinne anzumerken sind, ist Ian Paterson. Neu gegenüber der Besetzung des Vorjahres ist Christa Mayer als Brangäne; den heillosen Einsatz einer Gefangenen in einem totalitären System vermag sie in Spiel und stimmlicher Gestaltung fesselnd zu versinnlichen.
Mit der nunmehr erzielten Intensivierung des Spiels der Isolde ist auch die stimmliche Gestaltung der Partie durch Petra Lang facettenreicher geworden. Das dunkle Timbre weist noch auf ihre Herkunft aus dem Mezzofach hin, doch entfaltet sich Langs Stimme in der hohen Lage mühelos und zumeist strahlend. Sie beginnt den Schlussgesang, den sogenannten „Liebestod“ im zartesten Pianopianissimo um dann im Forte auch die Qualen eklatanter Diskrepenz zwischen Verklärungsvision und Realität mitschwingen zu lassen. Stephen Gould erweist sich als ein gestandener Heldentenor alter Schule, wie man ihm heute kaum mehr begegnet; doch ist er äußerst beweglich und gestaltet den Tristan gleichermaßen verinnerlicht und intensiv, wie extensiv in seiner raumgreifenden Darstellung.
Dass der Wagnervorhang während der musikalischen Vorspiele geschlossen bleibt und sich erst an jenen Punkten öffnet, die Wagner in der Partitur vorschreibt, werden all jene Besucher begrüßen, denen die ausinszenierten Vorspiele und Ouvertüren – wie weithin praktiziert – ein Dorn im Auge sind. In dieser Produktion scheint es sich um eine umgesetzte Forderung des Dirigenten Christian Thielemann zu handeln, – nur dass ein bei der Konzentration auf die Musik, um so stärker erwarteter Spannungsaufbau im ersten Vorspiel leider ausbleibt. Mit breiten Tempi und ebensolchen Einschnitten gewinnt Thielemanns Interpretation im Laufe des Abends an Kontur. Neben musikalischen Schönheiten, etwa den Kantilenen der Celli, störte im dritten Aufzug ein verpatztes Solo der Holztrompete. Am Ende schafft es der Dirigent, der Musik – entgegen Wagners Vorschriften – das letzte Wort einzuräumen, diese nicht mit sondern erst nach Schließen des Vorhangs zu beenden.
Ähnlich, wie sich trotz Diskrepanz in der Auffassung die Deutungen von Knappertsbusch und Wieland Wagner zu einem stimmigen Ganzen rundeten, gelingt es auch hier. Die deutlich der „Werkstatt“-Idee Neubayreuths verpflichtete, stark weiter be- und erarbeitete Konzeption der Regisseurin verbindet sich mit der musikalischen Ausdeutung zu einem besonders fesselnden Musiktheater-Erlebnis.
Nächste Aufführungen: 2., 6., 12., 16. und 20. August 2017.