Die mittelalterliche Kirche von Vers-l’Eglise ist wunderbar gelegen in einem Hochtal zwischen Berner Oberland und Wallis. Mit weiteren Kirchen in Saanen, Rougemont und Lauenen zählt sie zu den zentralen Aufführungsorten des Menuhin Festivals Gstaad. Vor der Kirche flanieren die Konzertbesucher: Banker aus Genf mit ihren Gattinnen im Abendkleid, einige Winzer, Lehrer und Handwerker aus dem Dorf oder dem nahe gelegenen Turbachtal, ihre Kinder haben sie ganz selbstverständlich mitgebracht; dazu reisende Musikenthusiasten aus Bern, Zürich oder Basel, ein polyglottes Völkchen in Erwartung eines Musikerlebnisses. Eine elegante Dame beugt sich zum Trinken über den Wasserstrahl des Dorfbrunnens – seinen Apero muss man schon hier nehmen, denn es gibt keine Häppchen und überteuerten Getränke. In dieser ländlichen Idylle lenkt nichts ab vom Wesentlichen, hier geht es um Musik pur.
In dieser Szene erkennt man viel von dem Geist, in dem Yehudi Menuhin das Festival 1956 aus der Taufe gehoben hatte. Er verbrachte damals die Ferien in Gstaad, erlebte die Landschaft, die Menschen und die Atmosphäre der alten Kirche in Saanen, der Hauptstadt des Saanenlandes. Der besondere Charme dieser Kirche, so will es die Festival-Legende, veranlasste den Geiger dazu, dort ein Konzert zu geben: Es wurde die Initialzündung fürs Yehudi Menuhin Festival, das von da an bis 1996 jährlich unter seiner künstlerischen Leitung stattfand.
Der Virtuose hatte sich einen anderen großen Geiger als seinen Nachfolger gewünscht: Gidon Kremer. Der kam mit viel Elan und interessantem künstlerischen Konzept, doch das Publikum blieb aus – es konnte und mochte seinem anspruchsvollen Programm nicht folgen. Ein zweites Lockenhaus war Kremer nicht geglückt, er verließ Gstaad 1998. In den Folgejahren führte Festivalpräsident Leonz Blunschi das Festival mit einem konservativen Programm – das im Vergleich zu früheren Jahren auch ein Low Budget Programm war – aus der Finanzmisere. Gleichzeitig machte man sich auf die Suche nach einem neuen künstlerischen Leiter und entschied sich für das Konzept von Christoph F. Müller, Geschäftsführer des Kammerorchesters Basel, der ein weit gespanntes künstlerisches Netzwerk und solide Managementkenntnisse mitbrachte. Der entscheidende Grund, warum man sich ab 2002 in Gstaad für den heute 34-jährigen Newcomer entschied und nicht für einen gestandenen Intendanten, war das Konzept des Baslers.
„Dieses neue Konzept fußt auf der Idee, dass man Menuhins Geist in verschiedenen Fassetten weiterleben lässt. Man setzt auf die Traditionen in den Bereichen Kammermusik und Orchester und gleichzeitig auf seine innovativen Ideen. Etwa das Interesse, verschiedene Kulturen und verschiedene Musikstile, auch verschiedene Menschen zusammen zu bringen.“
Müller konzipierte für Gstaad ein „Drei-Sparten-Modell“, das jetzt im dritten Jahr läuft. „Festlich – Kammermusikfest Gstaad“ heißt die erste Sparte. Kammermusik ist – wie bereits erwähnt – der Nukleus des gesamten Unterfangens. Sparte zwei firmiert unter „Klassisch – Orchesterkonzerte & Oper“. Hier kommt das 2002 fest errichtete neue Konzertzelt, das das bisherige Provisorium ablöste, ins Spiel.
Sparte drei geht in die Gegenwart: „Experimentell – todays music“. Das zielt weniger auf die Moderne wie sie etwa Kremer pflegte oder der große Festival-Bruder Lucerne Festival, sondern das meint die Faszination von Tango, Klezmer oder Jazz. In diesem Jahr stand die Uraufführung eines Sinfoniekonzerts für Alphorn von Daniel Schnyder im Mittelpunkt. Der Schweizer Komponist und Saxophonist mit Wohnsitz in New York führte auch bei dem Film zu Richard Strauss‘ „Alpensinfonie op. 64“ die Regie.
Hintergrund seines anspruchsvollen Konzeptes zwischen Event und Hochkultur war für Müller eine genaue Analyse des Publikums. „Das Menuhin Festival ist ein Genuss-Festival, das im Einklang mit der Natur und im Einklang mit Sich-selbst-Erholen steht. Es lebt von der Kombination aus Urlaub und ergänzenden Konzerten. Es ist kein urbanes Publikum hier. Man muss auch sagen, dass die Durchmischung hier einmalig ist. Da sind die Bergbauern aus den Seitentälern, die in die Konzerte kommen. Aber sie kommen wirklich nur, wenn es keine Risiken sind, also wenn es wirklich garantiert nur Wiener Klassik ist. Und dann die Feriengäste, ohne die sich kein Konzertsaal in dieser abgelegenen Region füllen würde: „Es gibt auch den versnobten Teil der Feriengäste, die nur kommen, weil es ein gesellschaftlicher Anlass ist. Aber denen gegenüber möchte ich mich eigentlich im Programm nicht äußern.“
Doch es gibt auch andere Reisende: „Anspruchsvolle Leute aus Genf, Lausanne, Bern, Basel und Zürich. Wir haben sehr viele Feriengäste aus England hier, weil zwischen dem Berner Oberland und England immer eine starke Beziehung herrschte. Das ist Publikum, das gewisse künstlerische Leistungen zu beurteilen weiß. Für das zu programmieren, macht dann wirklich Spaß.“ Ähnlich wie es Hans-Werner Henze in Montepulciano gelungen war, die Poliziani in sein Festival mit einzubinden, war es Menuhin in vier Jahrzehnten gelungen, dass sich die regionale Bevölkerung mit „ihrem“ Festival identifiziert. Nochmals Müller: „Die Leute mit denen ich hier zu tun habe, die wissen dank Menuhin etwas über Musik. Wenn ich etwa mit einem Schreinermeister über Schostakowitsch spreche, und der weiß dann wirklich, was Schostakowitsch auszeichnet und was ihn prägt. Das hätte ich sonst, wenn ich irgendwo im Schweizer Mittelland absteige und mit einem Schreinermeister über Schostakowitsch spreche, nicht erlebt. Faszinierend. Diese Leute kommen immer noch in die Konzerte und die muss man wirklich pflegen.“
Auch Gidon Kremer war in diesem Jahr mit einem neuen Programm zu Gast, eine Geste der Wertschätzung und der Versöhnung des neuen Machers gegenüber dem Vorgänger. Er bestritt mit seiner Kremerata Baltica Orchesterwerke von Schostakowitsch, Schnittke, Bakshi. Trotz allen Events und Experimenten: das Herz des Festivals bleibt die Kammermusik. Alfred Brendel war gleich an vier Abenden zu hören, unter anderem auch gemeinsam mit seinem Sohn und dem Leipziger Streichquartett.
Gleich vier Abende? Der Grund dafür liegt darin, dass Müller nicht nur fertige Programme einkauft, sondern Musiker einlädt, mehrere Tage Gast in Gstaad zu sein und Konzertabende speziell für diesen Zeitraum zu konzipieren. Ein Angebot, zu dem kaum ein Künstler nein sagen kann, dessen Alltag für gewöhnlich aus Konzert, Hotel, Flugzeug, Stimmprobe, Konzert und Hotel besteht. Doch nicht nur bekannte Namen wie Brendel oder Kremer werden eingeladen. Eine carte blanche für vier Konzertabende erhielt der junge französische Geiger Renaud Capucon: Gemeinsam mit Emmanuel Pahud, Paul Meyer, seinem Bruder Gautier Capucon, Gérard Caussé und Alexander Lonquich gestaltete er drei bemerkenswerte Kammermusikabende, mit Schwerpunkt auf französischer Musik von Fauré bis Messiaen, aber auch mit Werken von Mozart und Berio.
Yehudi Menuhin hätte sicher seine Freude an diesen Programmen gehabt – und von Low Budget ist 2004 auch nichts mehr zu spüren.