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Probenfoto GILGAMESH MUST DIE!. Foto: © Thomas Aurin
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Hänsel & Gretel in Mesopotamien – Uraufführung von „Gilgamesh Must Die!“ an der Deutschen Oper Berlin

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In jeder Hinsicht liegen Welten zwischen den jüngsten zwei Uraufführungen an der Deutschen Oper Berlin: nur einen Tag nach dem Kindermusical „Ritter Rost und der Schrottkönig“ folgte das Jugendstück „Gilgamesh Must Die!“. Mit diesem Auftragswerk an der Zusatzspielstätte Tischlerei ist Intendant Dietmar Schwarz ein echter Coup gelungen. Das von Berliner Kindern und Jugendlichen sowie der Band „The bianca Story“ getragene „Konzerttheater“ hat durchaus mehr szenisches Potential und dramatische Kraft als eine Reihe von Opernproduktionen dieses Hauses.

Die Basler Pop-Band „The bianca Story“, in den Charts und auf Konzertbühnen gefeiert, hat bereits in der Saison 2012/13 mit der Oper „M & the Acid Monks“ nach E. T. A. Hoffmann ein sehr spezifisches Empfinden bewiesen, den Nerv eines jungen Publikums zu treffen und die Fähigkeit, in ihrer Mixtur Operntraditionen ebenso aufzugreifen, wie aktuelle Trends der U-Musik-Szene.

In „Gilgamesh Must die!“ entwickelt sich der Gesang unisono und a cappella archaisierend von der Ein- bis zur Vierstimmigkeit. Die elf Songs des Stücks basieren auf jenen elf Tafeln, auf denen das Epos überliefert wurde. Die Kompositionen von Fabian Chiquet, Victor Moser und Elia Rediger schmelzen in der Interpretation der Instrumentalisten um den in archaisierender Maske charismatischen Leading Singer von „The bianca Story“ zu einer Einheit. Die Melodik nimmt den Zuhörer gefangen, das Schlagwerk zielt emotional auf die Bauchregion und erreicht im gemischten Auditorium junger und älterer Opernbesucher gleichermaßen ein glückliches Rock-Gefühl.

Gilgamesch, der König von Uruk, war in der Gemeinschaft mit seinem besten Freund Enkidu unbesiegbar und fühlte sich unsterblich. Nach dem Tod von Enkidu führt ihn die Suche nach dem Sinn des Lebens bis ans Ende der Welt. Heimgekehrt, wird der vordem gefürchtete Despot zu einem geachteten Beschützer seiner Heimat, und als Zeichen für ein den Tod überdauerndes Sein lässt er eine Mauer mit philosophischen Inschriften um sein Reich erbauen.

Gilgamesch selbst tritt in der Inszenierung des jungen Regisseurs Daniel Pfluger nicht auf, sondern der König aus dem mesopotamischen Epos, „ein Drittel Mensch, zwei Drittel Gott“, wird in einer Mischform von Konzert, Musiktheater, Performance und Tanz plastisch, von einem jugendlichen Ensemble mit- und nachfühlend heraufbeschworen.

Zwei bebrillte Kinder, ein heutiges Hänsel & Gretel-Paar, sind auf der Suche nach dieser Geschichte. Sie klettern auf ein Mauerfragment, um ein Standmikro zu erreichen, in das sie existenzielle Fragen stellen und dann bitten: „Vergesst uns!“

Zunächst für eine brillante Ausdruckstänzerin hält man die Harfenistin und Sängerin Natalina Muggli, die sich ihren Körper weiß einschminkt und sodann zur dominierenden Schauspielerin dieser Produktion wird. Plastisch vermittelt sie die Geburt des Enkidu, von dem sie anschließend begattet wird, während dieser dabei zum Menschen reift. Die von der an der Zürcher Hochschule der Künste noch im Masterstudiengang Schauspiel studierende Darstellerin zitierten Textpassagen basieren auf Raoul Schrotts Nachdichtung und Neuübertragung des Epos’.

Dann umkreist eine skandierende Gruppe von fünfzehn Jugendlichen das Bühnenpodest, perfekt in Sprechtechnik, Rhythmik und Präzision, einzig dirigiert durch ein hörbares Naseneinatmen vor dem jeweiligen Einsatz. Auch tänzerisch wirkt die für „Gilgmesh“ gecastete Formation hochprofessionell, obendrein mit einigen echt artistischen Zutaten. So mag man sich den Choros des Dramas im antiken Griechenland vorstellen.

Ein kleines Keyboard mit Grammophon-Schalltrichter ist das von einem Jugendlichen gespielte Verbindungsglied zwischen der Band auf der hoch gelagerten Skenae und dem Choros auf der ebenerdigen Fläche der Orchästra.

Das Bühnenbild von Flurin Borg Madsen orientiert sich für die farbenfrohe, mit Live-Videotechnik ohne Übertreibung unterstützte Versinnlichung am epischen Theater von Bertolt Brecht. Auf einer vielfältig eingesetzten, transparenten Brechtgardine tragen beim Einlass zwei Hände symbolträchtig ein versteinertes Händepaar.

Das Zentrum der Bühne bildet ein fahrbares Podest für die Band, das vom Chor der skandierend marschierenden Jugendlichen nach Bedarf gedreht und verschoben wird. Dahinter erhebt sich die Mauer als Grenze der Macht; sie zerbirst in 13 Segmente, die ihrerseits vielfältig bespielt werden können.

Aus einer fahrbaren, feuerroten Pyramide schält sich die Wiener Mezzosopranistin Christina Sidak im schwarzen Paillettengewand. Sie schwingt sich auf zum Machtfaktor der die Choristen so lange als willenlose Marionetten agieren lässt, bis diese sich ihrer individuell farbigen Alltagskleidung entledigen und in weißer Unterwäsche zu kollektiv empfindenden Individuen werden. Wiederholt springen die jungen Frauen die jungen Männer an. Nach Enkidus Tod schlagen Sie mit Ruten gemeinsam rhythmisch auf den Boden und entschwinden aus dem Raum.

Die Schauspielerin, unter einem Schleier zu Überfigur geworden, sammelt in einem weißen Sack die abgelegten Kleidungsstücke und Schuhe ein, – Relikte einer vergangenen Gesellschaftsform. „Wer bist du denn?“ fragt sie, und „Gilgamesh!“ antwortet es aus dem Off. Auch die Sängerin, vordem technisch zur Mehrstimmigkeit erhoben, entledigt sich nun ihres Prachtkostüms, wird weiß geschminkt; ihre Macht über die Jugendlichen ist dahin, sie wird zur Ruhe gelegt und auf dem Podest aufgebahrt.

Ein Problem der Inszenierung ist es, dass sie keinen rechten Schluss zu finden vermag und daher mehrere Enden hinter einander montiert: nach einer zackigen Choreographie mit Klatschen auf den nackten Armen, begeben sich die Chormitglieder ins Auditorium, ein Video in Schwarz-Weiß zeigt sie auf der Probe, Hänsel & Gretel kehren wieder, besteigen das Podest und berichten vom König, der „den täglichen Lärm liebte“ und beenden ihre Ausführungen mit der Aufforderung „Vergesst uns – wenn ihr könnt!“.

Das können wir nicht, obgleich es dann noch weitere Szenen gibt. Der Chor verschwindet hinter die Schleier der Brechtgardine, auf die in roten Lettern Botschaften projiziert werden, wie „Weitermachen!“ und Leitsätze, wie „Gott spielen und alles richten!“.

Vier Band-Musiker starten in Spots auf der Aktionsfläche der Orchästra von Neuem, während die anderen Vier als Krieger auf dem Boden hereinrobben, das Spielpodest erneut besetzen und ihre Instrumente unter den Gesang mischen. Dann kommt auch der Choros wieder, schlägt erneut mit den Ruten auf den Boden – aber das ist schon die Promotion-Zugabe für einen der Hits dieses Abends.

Dieses Musik-Theater-Projekt, das in Präzision, Rasanz und Überzeugungskraft an das Projekt von „Rhythm is it“, vor nunmehr zehn Jahren, mindestens heranreicht, wird nach gut einhundert Minuten pausenloser Aufführungsdauer auch in der dritten Vorstellung vom Publikum in der ausverkauften Tischlerei bejubelt.

Der Titelsong „Gilgamesh Must die!“ sowie „Glück macht einsam“ sind bereits auf der CD „Digger“ (RAR 24951) nachzuhören, die durch Crowdfunding finanziert wurde und daher zum Materialpreis abgegeben wird: „Künstler & Plattenfirma sind bereits bezahlt“. Ein Glücksgriff, ein Muss!

Weitere Aufführungen: 25.3., sowie 3.4. 2014 (Leipzig, Kulturlounge), 9. 4. (Dresden, Scheune) und 11. 4. 2014 (Jena, Kassablanca).

 

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