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Im Herzen des Tonhalle-Orchesters Zürich: drei Improvisatoren um Komponist Jaques Demierre. Foto: Doris Kessler
Im Herzen des Tonhalle-Orchesters Zürich: drei Improvisatoren um Komponist Jaques Demierre. Foto: Doris Kessler
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Halbzeit für das Projekt Œuvres Suisses

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Das Tonhalle-Orchester Zürich unter Leitung von Sylvain Cambreling mit Werken von Demierre, Rihm und Lutoslawski
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Mit einer außergewöhnlichen Begegnung des Tonhalle-Orchesters Zürich mit dem Improvisationstrio Leimgruber – Demierre – Phillips ging am Freitag, den 13. November, das Förderprojekt Œuvres Suisses in seine verdiente Halbzeit. Verdient deshalb, weil man nach siebzehn Uraufführungen bereits sagen kann, dass der Plan, ein neues sinfonisches Œuvre zu schaffen, aufgegangen ist. Erfunden haben es die Kulturstiftung Pro Helvetia und der Verband Schweizer Berufsorchester: Elf Schweizer Orchester bringen in den Jahren 2014 bis 2016 je drei Werke von Schweizer Komponisten zur Uraufführung. Im Gegenzug unterstützt Pro Helvetia die Orchester bei Auslandsgastspielen und Tourneen und macht sie so zu Botschaftern der Schweizer Musik der Gegenwart.

Früher mussten eidgenössische Orchester bei ihren Auslandstourneen jeweils ein zeitgenössisches Schweizer Werk mitführen, damit sie dafür die Unterstützung der Pro Helvetia erhielten. Die Folge waren häufig wenig befriedigende Alibiübungen, so dass man die Praxis änderte: Man verlangte kein Schweizer Tourneegepäck mehr, sondern forderte, dass sich die Orchester während der Saison zuhause für das einheimische zeitgenössische Schaffen einsetzen. Um die Orchester hier gleichermaßen stark in die Pflicht zu nehmen und auch zu konkreten Ergebnissen zu gelangen, entstand das Projekt „Œuvres Suisses“. Die SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) zeichnet alle Uraufführungen auf: Die bisherigen Aufnahmen sind über www.oeuvressuisses.ch frei zugänglich, auch Einblicke in die Partituren sind möglich. Eine breite Palette an Stilistiken und Kompositionsverfahren zeigt die Bandbreite der aktuellen Schweizer Szene. Bisher ausgewählte Komponisten waren unter anderem Nadir Vassena, Michael Jarrell und Bettina Skrzypczak. Dieter Ammann, Paul Giger, Daniel Schnyder, Katharina Rosenberg und weitere folgen. Die Uraufführung von „No Alarming Interstice“ für Trio und Orchester des Schweizer Frei-Jazzers Jacques Demierre in der Tonhalle Zürich war in doppelter Hinsicht denkwürdig.

Sie markierte nicht nur die „Halbzeit“ des Projekts, sondern stellte die Idee des symphonischen Formats an und für sich in Frage: Demierre schuf ein Musikstück, das dem Werkcharakter nur in Teilen gerecht wurde. Er verzahnte Improvisationsteile und Strukturteile so gut, dass die Trio-Tutti-Kombinationen quasi nahtlos ineinander übergehen. Das vielfältige Geräusch- und Klangmaterial des Free Jazz vergrößerte Demierre durch seine Orchesterinstrumentationen äußerst wirkungsvoll. Überblasgeräusche des Saxophons, Flageoletts des Kontrabasses werden vom Orchester aufgenommen und verwandeln sich in unerwarteten Schönklang. Das, was der Frei-Jazzer nun fürs Tonhalle-Orchester unter Sylvain Cambreling gemacht hat, erinnert an die Methode Leopold Stokowskis bei seinen Bach-Transkriptionen für großes Orchester, das so genannte „Blow-up“-Verfahren. Die Tonhalle-Musiker fühlten sich in Demierres Klangwelt hinein und schufen einen frappierenden Farbenreichtum, wie man ihn etwa von spektralistischer Musik her kennt. Fraglos ist dieser Free Jazz mit vollem Orchesterklang ungleich wirkungsvoller als das Original. Sylvain Cambreling als erprobter Neue-Musik-Interpret meisterte die Aufgabe, das Orchester im stetigen Puls (des Jazz) zu dirigieren. Nur eine Frage blieb offen: Demierre hat sein Stück den Solisten Urs Leimgruber und Barre Phillips auf den Leib geschrieben. Welche anderen Solisten können diese „Partitur“ spielen, beziehungsweise welcherart verändert sich das Orchesterstück durch anderes Personal?

Der Konzertabend in der Tonhalle, der im Rahmen des viertägigen Festivals Tage für Neue Musik Zürich stattfand, hatte noch weitere exquisite Werke im Programm. Hatte sich Demierres Orchesterstück den Kategorien Puls und Klang verschrieben, so rückte Wolfgang Rihms „Trio Concerto“ Melos und Expressivität in den Vordergrund. Das Jean Paul Trio eröffnete die Schweizer Erstaufführung mitreißend und hielt die Spannung bis zum fulminanten Schlussakkord. In dem 2014 entstandenen Stück erkundet Rihm spielerisch verschiedenste Solo-Tutti-Varianten. Das Trio wird dabei niemals als Gegensatz zum Orchesterpart aufgefasst, sondern Trio und Orchester sowie Solisten aus dem Orchester agieren kunstvoll verschränkt und spielen sich dialogisch die Themen zu. 

Den Tagen für Neue Musik war man es schuldig, auch als drittes sinfonisches Werk des Abends etwas Zeitgenössisches zu spielen und mit Witold Lutoslawskis „Livre pour orchestre“ hatte das Orchester die richtige Wahl getroffen. Cambreling gestaltete dieses einfallsreiche Bravourstück für Orchester fein bis ins kleinste Klangdetail, ohne darüber die Freude an wirkungsvollen und leidenschaftlichen Passagen oder dem großen Accelerando gegen Ende des Livre zu verlieren. Das „Livre pour orchestre“ ist Neue Musik zum Zurücklehnen und Genießen – stets fasslich und doch nie simpel.

Das daran anschließende Konzert des GrauSchumacher Piano Duos im Kleinen Saal der Tonhalle war ein Gegenkonzept. „Le temps, mode d’emploi“ für zwei Klaviere und Elektronik von Philippe Manoury war Musik, die wie ein Uhrwerk abläuft: Zwei Flügel waren von vier virtuellen Klavieren und einem komplexen System der Klangverarbeitungen und Aufspaltungen umgeben. Trotz großer klanglicher und rhythmischer Varianz stellte sich nach der ersten Viertelstunde das ungute Gefühl ein, dass – zumindest hörbar – nichts Neues mehr käme. Die nächste Dreiviertelstunde war ergo eine klingende Studie über kontemplative oder aktive, verzögerte oder echte Zeit, kontinuierliche oder unterbrochene, heterogene oder homogene, geglättete oder gerippelte, pulsierende, zirkuläre, gekrümmte Zeit. Musik nach einem faszinierenden und ausgeklügelten System, aber in ihrer stoischen Fortschreitung und Entfaltung zermürbend.

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