„Freunde, das Leben ist lebenswert“ und Richard Tauber, dieses hinreißende Weib Giuditta und Lehár selbst am Pult in der Wiener Staatsoper – das war 1934. „Die Münchner Neuinszenierung verbindet und verblendet dieses Werk mit anderen künstlerischen Reaktionen auf die damalige Zeit von Kollegen Lehárs, nicht als Demontage. Nein, Montage! Christoph Marthalers Radikalität bedeutet radikale Poetisierung. So landet das Stück bei uns im Heute“ erklärt Dramaturg Malte Ubenauf zur Neuinszenierung.
Aus dem totalen Dunkel führt Ausstatterin Anne Viebrock die 650 auf Abstand sitzenden Zuschauer in eine blitzsaubere Mehrzweckhalle mit banalen Metalltischen und Stühlen und zwei Klavieren am Rand und einer mehrfach gestaffelten Hinterbühne und einem rechts schlecht einsehbaren Zimmer. Ein Uniformierter singt sich ein, ein Klavierspieler sitzt herum, andere Figuren kommen rein und gehen raus – halt der bekannte Marthaler-Kosmos, eine versponnen eigene Welt, die sich für fast alles verwenden lässt und von einigen als „poetisch“ erlebt wird. Dann setzt Titus Engel mit dem Staatsorchester und Lehárs Vorspiel zu „Giuditta“ ein und dann singt ein anderer fescher junger Uniformierter überraschenderweise „Freunde, das Leben ist lebenswert“.
In Bruch- und Versatzstücken folgt darauf die Liebesgeschichte zwischen dem Hauptmann Octavio, der zunächst noch verheirateten Giuditta, die ihm ins libysche Kolonialabenteuer Italiens folgt, wo die Liebe stirbt, Giuditta zum Revuestar mit austauschbar reichen Gönnern wird – und dann käme die große, innovative Herausforderung des Originalwerkes: Octavio ist zum einsam verbitterten Barpianisten abgestiegen; Giuditta begegnet ihm, ihre Liebe zu ihm flammt erneut auf, doch er ist seelisch ausgebrannt – und fern allem Operetten-Schmäh endet das Werk ohne Happy End im Kontrast von Glamour und Kriegstrauma.
Das wäre etwas für Regie-Sensibilisten vom Rang eines Claus Guth oder Christoph Loy. Marthaler, der inzwischen unumgängliche Regie-Mitarbeiter Joachim Rathke und vor allem Dramaturg Malte Ubenauf glaubten das anscheinend unvollkommene Werk nur so zu retten: indem sie fast die Hälfte strichen – und 14 Musikstücke von Eisler, Ullmann, Berg, Bartok, Schönberg, Krenek, aus anderen Lehár-Werken und von Strawinsky sowie Schostakowitsch einfügten, gipfelnd im Einbau von Mariettas Lied „Glück, das mir verblieb“, des Korngold-Welterfolgs von 1920 und noch einmal übergipfelt in nur mühsam kenntlichen Spielszenchen aus Ödon von Horvaths Kolportage-Drama „Sladec oder Die schwarze Armee“ von 1928.
Es wurde ein kunterbunter Abend, in dem etwa eine Luftballonverkäuferin auch mal streng-böse die Militär-Strafe für Desertion auf Italienisch zitierte, drei Mädels mit Kanonenkugeln in „Monte-Verita“-Bewegungen kegelten, viele der zehn kleineren Solisten staunenswerte Grotesktänze und -zusammenbrüche aufführten – doch rauschenden Szenenapplaus hätten Joaquin Abella und Sebastian Zuber verdient, die in einer fulminanten Akrobatik-Nummer aus Rennen-Stürzen-Drehen-Taumeln-Springen-Wälzen den Saal von Stühlen und Tischen leerfegten – grandios!
Ach ja: Gesang! Kerstin Avemo und Sebastian Kohlhepp hatten es ein bisschen schwer, als ehemaliges Buffo-Paar und als „Anna und Sladec“ Profil zu gewinnen, ähnlich wie der Leutnant von Jochen Schmeckenbecher. Vida Miknevičiūté brachte für Giuditta eine blendende Bühnenerscheinung, aber ein stählern-lautes Sopran-Forte (auch via Seitenlautsprecher) und zu wenig gutes Deutsch für Dialog-Nuancen mit. So beeindruckte nur Daniel Behle mit schönem Tenor für Lieb und Leid Octavios. Einhelliger Beifall für sie alle, das Staatsorchester und Dirigent Titus Engel. Wären mehr als 650 Besucher im Nationaltheater gesessen, so hätte das mehrfach im zweiten Teil beginnende „Buh“ am Ende wie ein Orkan das gesamte Regie-Team in die Hinterbühne gefegt. Und schon an der Garderobe begann man sich zu fragen: Worum ging‘s und wie hieß diese Marthaler-Kollasch noch einmal?
- Am Mittwoch, 26.Januar 2022 ab 19 Uhr kostenlos auf STAATSOPER.TV und ab 27.Februar 2022 dann auf ARTE CONCERT kostenlos abrufbar.