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Im Wald (© inpetto filmproduktion)
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Harmonie der Wald- und Wasser-Welt – Uraufführung der Konzertinstallation „Im Wald | Under the trees“ im Berliner Konzerthaus

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Zwischenrufe „Aufhören!“ und aggressives Türenschlagen sind selten geworden bei Musica-Viva Konzerten. Sie waren im großen Saal des Konzerthauses zu erleben beim Abschluss- und-dann-doch-nicht-Abschluss Stück eines Abends mit acht Studien über animierte Stillleben und Musik, realisiert vom Ensemble Resonanz und dem Experimentalstudio des SWR, in der Regie des Filmers Uli Aumüller.

Immer häufiger fungiert seit der Epoche des „Regietheaters“ ein Regisseur (oder Choreograf) als Autor eines musiktheatralen Projekts. So auch der Musikfilmer Uli Aumüller mit „Im Wald | Under the trees“. Der deutsch-englische Titel ist hier durchaus programmatisch gewählt, denn die Verschiebung einer Amazonas-Reise brachte den Regisseur dazu, Fotos am Brandenburger Brückentin-See zu machen, die von den meisten Betrachtern für Bilder aus den Regenwäldern Guatemalas gehalten wurden.

Aus dieser Idee heraus entstand ein Film, der jeweils bis zu 30 Einzelaufnahmen von Wald- und Seebildern aus Brandenburg zum virtuellen Panorama einer virtuellen, unendlichen Kamerafahrt zusammengesetzt hat, in seinen Zooms und Schwenks dem Fluss und den Höhepunkten ausgewählter orchestraler und elektronischer Werke von der Barockzeit bis zur jüngsten Gegenwart folgend. Aumüllers Musik-Film-Projekt mischt die Bebilderung bestehender Kompositionen mit Auftragswerken für seinen Film.

Edgar Kisters’ (*1975) „Der Atem des Waldes“ für Elektronik basiert auf Urwaldgeräuschen, die sich zu den Bildern des deutschen Waldes fügen, durchaus auch mit einigem Witz, immer dann, wenn der Zuhörer das Nahen von Raubtiere erahnen mag.

Erst in der Stille danach betritt der Dirigent den Raum um mit solistischem Streichquintett, Flöte, Klarinette, Fagott, Schlagwerk und Keyboard recht ähnliche Geräuschebenen wie Kisters zu erschaffen. Eigens zu Aumüllers filmischem Übergang von Winter zu Frühling komponierte Ying Wang (*1976) „Glissadulation“, mit Schwebungen in ständigem Fluss, Glissandi in unterschiedlichen Tempi, Dynamik und Spieltechniken. Wangs Cluster werden von der Live-Elektronik im Raum verhallt, schaffen rundum ein artifizielles Wald-Erlebnis.

Nach dieser Komposition verließen die Solostreicher den Raum und chorische Streicher traten auf, um – ohne Dirigent aber mit der Soloviolinistin als konzertmeisterlicher Stehgeigerin – Georg Philipp Telemanns Frosch-Konzert für A-Dur, „Die Relinge“ zu interpretieren. Das kompositorisch nachempfundene Quaken der Frösche und die daraus entwickelte Melodie löste einerseits Lacher, andererseits mit Applaus durchaus herkömmliche Konzertbesucher-Reaktionen aus.

Filmisch stets mit Zwischentiteln versehen, wurde die vierte Komposition mit einem voran gestellten Text aus Dantes „Göttlicher Komödie“ eingeleitet, „Entre les deux rives du printemps“ von Gilles Gobeil (*1954). Die durchwegs harmonisch gehaltene Elektronik, mit Glockengeläut und schwingend den Raum einnehmenden Intervallen, verwendet als einzige Disharmonie einer Art von fleckigem Katzenjaulen. Aumüller hat diese Komposition mit lichtdurchfluteten Naturlandschaften und mikrokosmischen Aufnahmen  filmisch kongenial umgesetzt.

„Les Eléments“ von Jean-Féry Rebel evoziert in der Interpretation des Ensembles Resonanz unter dem Mainzer GMD Hermann Bäumer mit stoßenden Bassfiguren zu den filmisch aus dem winterlichen Boden sprießenden Trieben pure Naturalerotik.

Bilder des Frühlings von 2010 dann in der zweiten musikalischen Uraufführung des Abends, „Abzweige“ von Detlef Heusinger (*1956). Den evozierten Märchenwald des Komponisten schafft der Filmer mit „Bilder hinter den Bildern“. Zum live gespielten Kammerorchesterklang (einer ähnlichen Besetzung wie beim Anfangsstück, ergänzt um Klavier und bisweilen mit bogengestrichenen Xylophon) tritt die elektronische Ebene: Streicher-Flageoletts mit den Strahlen des anbrechenden Tages, Pizzicato und Col legno, die Pianistin wechselt zwischen Flügel und Keyboard, und die Liveelektronik transportiert den Klang in das Innere des Flügels.

Den innovativen Höhepunkt brachte das siebente Filmkapitel mit einer Komposition von Enno Poppe (*1969), „Der Wald“ für vier Streichquartette. Zunächst mit jazzigen Elementen konzertieren die vier auf der Bühne separat angeordneten Quartette, sich im klassischen Sinne überbietend im konzertierten Zusammenspiel. Die Akkorde pulsieren und erzeugen einen klassischen, dreidimensionalen Raumklang. Die zwar etwas lang geratene Komposition ist erfüllt von größter Heiterkeit in der Empfindung.

Im Film umgesetzt mit durch das Eis brechenden Ästen, bohren sich die thematisch dichten Ballungen der einzelnen Quartette zu einem Gesamtklang, finden sich, in immer dichterer Folge geschichtet, zu einem gemeinsamen Abstürzen, um dann wieder vereinigt aufzusteigen. Dabei kommt es zu geradewegs zufälligen Durchgängen durch harmonisch reine Akkorde, entsprechend der Zufälligkeit beim Beschreiten eines Weges im winterlichen Wald, der Bewegung in gefrorener Zeit. Poppes Komposition mag für einige Zuhörer die Grenze des Zumutbaren überschritten haben und dem Einen oder Anderen tatsächlich an die Substanz gegangen zu sein, aber diese Komposition ist substanziell im besten Sinne, ja ich wage zu sagen: ein Meisterwerk, das ich gerne noch öfter hören würde.

Jene Besucher, die das Konzerthaus nicht vorzeitig verlassen hatten, sparten denn auch nicht mit herzlichem Beifall. Der lang andauernde Schlussapplaus wurde von Regisseur Uli Aumüller unterbrochen mit dem Hinweis auf eine Zugabe. Diese war bereits im Programmheft vermerkt und beschrieben, und auch dazu gab es einen animierten Stillleben-Film aus Bildern des heftigen Frosteinbruchs im Februar 2011, am Mühlenbecker See bei Berlin. Zu Bildern gleich Mondlandschaften, mit im Eis eingeschlossenen Luftblasen, erklang der dritte Satz aus John Cages Streichquartett, wobei sich der seltsame Effekt einstellte, dass der bereits 1950 entstandene Quartettsatz nach dem Erlebnis von Poppes Komposition gleich einem Purgatorio wirkte, als reinster Wohllaut. Dennoch verließen auch während dieser Zugabe einige Besucher das Auditorium.

Aumüller ist für „Im Wald | Under the trees“  ein Rundkino zu wünschen: die ursprünglich vom Regisseur angedachte, 60 x 9 Meter große Rundleinwand, aber statt eines Konzertsaals einen Kunstraum mit schwebenden Instrumentalisten und mit Liegeplätzen für die Betrachter.

Begonnen hatte der Konzertabend allerdings mit einem Eklat: da die Uraufführung offenbar schwächer besucht war als erwartet, gab es freie Platzwahl im Parkett und im mittleren Rang des Konzerthauses. Aber kurz vor Beginn kam ein Mitarbeiter des Konzerthauses, der das im Rang sitzende Publikum im Auftrag des Intendanten Nordmann ins Parkett zu scheuchen versuchte. Der unsanften einer Aufforderung, die ausschließlich mit dem Schielen auf die Statistik der Platzausnutzung des Konzerthauses zu begründen scheint, folgten einige Besucher, andere widersetzten sich – zu Recht. Vom Rang aus hatten diese Besucher die weitaus bessere Sicht und im Surroundklang für dieses Film-Konzert ringsum mit Lautsprechern ausgestatteten Konzerthaus-Auditoriums – in der Klangregie von Simon Spillner, Thomas Hummel, Gary Berger, Detlef Heusinger – auch das bessere akustische Erlebnis.

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