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Vom Fotografen in Szene gesetzt: das NAMES Ensemble. Foto: Hechenberger

Vom Fotografen in Szene gesetzt: das NAMES Ensemble. Foto: Hechenberger

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In Harmonie mit dem Zeitgeist

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Das 17. aDevantgarde-Festival in München · Von Roland H. Dippel
Vorspann / Teaser

Das Publikum kommt wieder. Einige Konzerte des 17. Münchner aDevantgarde-Festivals waren mit über 90 Hörenden fast voll besetzt. Richtig leer bleibt keines im Haupthörort Schwere Reiter, in der Seidlvilla, in der Akademie der Schönen Künste und im Einstein Kultur. Acht Konzerte hatte das Komponisten-Leitungsduo Markus Lehmann-Horn und Alexander Strauch für die Mittsommerwochen vom 17. Juni bis zum 2. Juli kuratiert. Sie setzten aDevantgarde-Mitgründer Sandeep Bhagwati zum 60. Geburtstag eine Hommage – in einer kleinen Werk­suite mit Kompositionen Bhagwatis, des frisch 50-jährigen Jörg Widmann und des als Ex-Biennale-Leiter für München bedeutenden Neue-Musik-Veteranen Peter Ruzicka. Mit dem Zentaur-Quartett lancierte aDevantgarde als Start des neuen eigenen Labels ein CD-Doppelalbum mit Streichquartetten von 13 aDevantgarde-Komponierenden aus 30 Jahren.

 

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Das physische Festival mündete ins Finale „Ade... Salon“ mit dem Ensemble Walzerklang. Dieses brachte so manches aus der golden-silbernen Unterhaltungsdynastie im Wechsel mit aDevantgarde-Emanationen. Ein Gipfelsprint von Imitation und Ironie wurden darunter die Uraufführungen von Johannes X. Schachtners „20th Century Opera’s Quadrilette“ und Alexander Strauchs „Brandneue Intermezzi zu altbekannten Novitäten“ mit Hommagen an Ferneyhough, Xenakis, Stockhausen und andere. In diesen Stücken schimmerte viel vom Witz und der Gewitztheit früherer aDevantgarde-Jahrgänge.

aDevantgarde widmete sich im ausgerufenen Revival dem während und wegen der Pandemie diagnostizierten Biedermeier als gesellschaftlicher Gesamtströmung. Strauch und Lehmann-Horn stellen eine ganze Reihe von Symptomen und Verdachtsmomenten fest: Verlegung musikalischer Tätigkeiten in private Räume und vermehrte Konzertaktivitäten von Bildschirm-Kacheln. Das Biedermeier diente als Erklärungsmodell sowohl für die kleine Konzertwelt und zugleich die große globale Welt: Die großen Krisen waren natürlich präsent in der aDevantgarde-Enzyklopädie zwischen dem „historischen Biedermeier und den Befindlichkeiten unserer Gegenwart“.

Bei drei Konzertbesuchen wurden die Kontraste überwiegend von einer sehr homogenen Seite erlebbar. Statt der grellen Töne, wie sie aus dem Internet gellen, hörte man sehr viel Gediegenes. Oft kam die Musik nicht aus der Hitze der Emotionen, sondern wie aus der Komfortzone. Einen beträchtlichen Unterschied gab es allerdings zwischen aDevantgarde und dem Personenkult um Größen wie die komponierenden Biedermeier-Virtuos*innen, etwa die bodenständige Clara Schumann und den exzessiven Franz Liszt. Die hier sich versammelnden Komponierenden spielten keinen Originalitäten-Trumpf nach dem anderen aus. Eher zeigten sie kollektiven Biedersinn, wenn sie sich nach Auftritten nur sekundenkurz allein verbeugten und von ihren Interpretierenden kaum unterscheiden wollten, in deren Reihen sie sich schnell zurückzogen. Kurzbiographien gab es in der Festivalbroschüre nicht, auch keine Angabe von Geburtsjahr und Geschlecht der Komponierenden und Interpretierenden.

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Draufsicht: ensemble via nova. Foto: Guido Werner

Draufsicht: ensemble via nova. Foto: Guido Werner

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Hörende erfuhren weder biographische Grobzüge noch Details. Man war also vollkommen frei im Erschließen, Erraten, Spekulieren von ästhetischer Zugehörigkeit und Positionierung der Werke. Natürlich erkannte man als mehrjähriger aDevantgarde-Besucher einige Protagonist*innen aus den Münchner und bayerischen Komponierszenen. Aber sonst ist man neben den kurzen Textdarlegungen auf eigene Vorkenntnisse und Recherchen angewiesen. Ein ausgewogener Anteil von Komponistinnen und Komponisten wurde angestrebt und fast erreicht.

Generell wirkten Veranstaltungen mit szenischen Akzenten kurzweiliger. Vom BR mitgeschnitten wurde das Konzert Sphere:X mit Trio Abstract und ensemble recherche. Das Publikum sollte sich im Wandeln Aktions- und Hörraume erschließen, verschiedene Stand-, Wandel- und Sitzproportionen erspüren. Das verlagerte den Fokus im Schwere Reiter erst recht von den inhaltlichen Anliegen auf die Musik, etwa die das Biedermeier-Genie Schubert zitierenden und Helmut Lachenmann anredenden „Nebensonnen“ von Lisa Streich. Nur gibt das Schwere Reiter bei Perspektivwechseln optisch und atmosphärisch nicht so viel her wie ein konventioneller Konzertsaal mit einer in der Regel überwältigenden Blickwende vom Podium ins Auditorium. Desto besser konnte man sich im Schwere Reiter auf die Vielfalt der Töne konzentrieren, unter denen die Saxophone in allen Höhen- und Tiefenregionen dominierten. Im Finale kam es zu einer temporären Fusion von ensemble recherche & Trio Abstract. Alexander Strauch erinnerte sich in dem Uraufführungsstück „Frei nach Derrida. Mit Marx’ Gespenstern reden“ nicht nur an Francis Fukuyamas Axiom vom „Ende der Geschichte“, sondern auch an Robert Schumanns „Geistervariationen“. Hier wird deutlich: Während im Biedermeier um 1823 Musik mit Melodienreichtum und im harmonisch-modulatorisch Machbaren (noch) empfindsam ausgeweitet wurde, ist der kreative Haupttreibstoff des pandemischen aDevantgarde-Biedermeier 2023 das extensive Klangfärbeln. In den meist kleinen Besetzungen häufen sich die Soli an- und abschwellender Töne, gehaltener Akkorde und feiner Glissandi.

Auch im Salon des femmes der ensemble via nova & Ensemble MIET+ zögert die Komponistinnen-Suite Macarena Rosmanich, Eunsi, Kwon, Margareta Ferek-Petric, Aigerim Seilova, Marta K. Kowalczuk und Magdalena Grigarová ziemlich lange, bis es zur ersten großen Fortissimo-Eskalation kommt.

Der Gesamteindruck ist homogen, zeigt den hohen Anspruch auf Satztechniken. Aber überwunden sind durchweg die Kategorie des Wilden, Absichtserklärungen zur Grenzüberschreitung und tönende Schwellengänge mit Risiko. E-Gitarre und Akkordeon setzten Schönes wie Nicht-Exotisches. Ausgerechnet bei NAMES Ensemble und im Rückblick auf das definierte Große in Klanggestalten des 100-Jahre-Jubilars György Ligeti fällt ein Risikowort: AVENTURES : LIGETI. Doch wie artikuliert sich dieses in den Titel gesetzte „Abenteuer“ und „auftretende Neue“? Da steht die Diva-Diseuse Salome Kammer am Entree zu einem Trödelmarkt. Sie setzt Neugier und Illusionen frei, die sich sofort im interpretierenden Gestus und musikantischen Engagement aller fortpflanzen und aufblühen. Der Aufruf zur Hommage inspirierte auch, weil es um Selbstbewährung vor einem erklärtermaßen ganz Großen geht. Die Stimmen von Salome Kammer, Coco Lau, Ansgar Theis brachten intensiven Druck in die Stücke. Dirigent Johannes X. Schachtner steuerte die Uraufführung „Dreiundzwanzig. Lyrische Interventionen“ bei, Jean-Luc Darbellay eine „Hommage à Ligeti“. Der performative Rahmenbau und ein klug gestaffeltes Suspense-Crescendo machten diesen Abend zum Höhepunkt. Festival-Leiter Markus Lehmann-Horn brachte in seinem „Stuck! für Klaviertrio“ die Gegensatz-Antriebe durch Starre und Aufbruch in eine dualistische statt lineare Thesenform. In der globalen, gendernden, egalisierenden Gegenwart zeigte sich das 17. aDevantgarde-Festival als gar nicht so langer Fluss mit sicherer Begradigung, stabilen Dammmauern und klaren Stationen zwischen altem und neuem Biedermeier. Hohes Niveau, solide Ausführung, schöne Einzelmomente.

Insofern ist aDevantgarde etwas Wunderbares, nämlich ein Festival ohne Klimawandel durch dualistische Gegenströmungen. Das Hörererlebnis ohne irritierende Gleichlaufschwankungen erreichte die Motto-Zielgerade also zu 100 Prozent.

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