Anfang Oktober 2021 wurde in Budapest und in Schloss Esterházy in Fertőd die Gründung der Stiftung Haydneum mit einem Festival eröffnet. Künstlerischer Direktor von Haydneum ist Benoît Dratwicki neben seinen Aufgaben im Centre de Musique Baroque de Versailles. Haydneum will unbekannte Musik aus den großen ungarischen Musiksammlungen publizieren, aufführen und promoten. Der Schwerpunkt liegt auf Sammlungsbeständen von etwa 1630 bis 1820. Eine erste Entdeckung sind Oratorien von Joseph Haydns Eisenstädter Amtsvorgänger Gregor Joseph Werner.
Vom 4. bis zum 7. Oktober bündelte das Eröffnungsfestival des Ungarischen Zentrums für Alte Musik in Budapest Konzerte im Konzertsaal Müpa, im Karmeliterkloster, in der Universitätskirche Budapest und in der Liszt-Akademie. In enger Zusammenarbeit mit dem Centre de Musique Baroque de Versailles produzieren der ungarische Alte-Musik-Spezialist György Vashegyi, der die Gründung des Haydneum seit langem angemahnt und vorbereitet hatte, das ungarische Orfeo Orchestra und Purcell Choir schon seit längerem konzertante Aufführungen und Einspielungen französischer Opern des 18. Jahrhunderts.
Mit internationalen Spezialensembles will Haydneum die Musiksammlungen der Fürstenfamilie Esterházy und wertvolle Bestände aus Györ, Pannonhalma, Szombathely, Veszprem und Pécs erschließen. Zum Großteil werden diese in der Széchényi Nationalbibliothek Budapest archiviert und digitalisiert. Diese Bestände internationaler Provenienz beinhalten neben Originalkompositionen zahlreiche Abschriften sakraler Kompositionen mehrerer Jahrhunderte und zum Beispiel Bearbeitungen Joseph Haydns für das Opernhaus Esterházy. In den weltlichen und geistlichen Musikzentren Ungarns wirkten viele Komponisten und Musiker deutschsprachiger Herkunft. Die Sammlungen liefern bisher unerschlossenes Material für die Forschung und die historisch informierte Aufführungspraxis. Ab 2022 unterstützt der ungarische Staat die Stiftung Haydneum mit einer jährlichen Subvention von ca. 4 Millionen Euro. Ein Teil dieser Summe fließt in Wettbewerbe, Workshops und Symposien für Alte Musik.
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Im Rahmen des verschiedene Musikgenres und eine Vielzahl von Ensembles präsentierenden Festivals ging unter, dass Haydneum mit wesentlicher Vorarbeit durch György Vashegyi, den Gründer und Leiter der ungarischen Originalklang-Ensembles Purcell Choir und Orfeo Orchestra, bereits die erste wichtige und spannende Komponisten-Entdeckung geleistet hatte.
Wer kennt heute Gregor Joseph Werner (1693-1766)? Der aus Ybbs an der Donau stammende Amtsvorgänger Joseph Haydns in Eisenstadt wurde von diesem hochgeschätzt. Leben und Werk Werners sind bisher unzureichend erforscht, die Diskographie äußerst schmal. Dabei hatte er mit Titeln wie „Der keusche Joseph“, „Deborra“, „Der Tod des hl. Johannes von Nepomuk“, „Judith und Holofernes“ oder „Der gute Hirt“ die Gattung des Oratoriums zwischen Händel und der Wiener Klassik umfänglich bereichert.
Es ist vollkommen unverständlich, dass Werners Oratorien, von denen Haydn in seiner Wiener Bibliothek Abschriften bewahrte, fast vergessen wurden. Werner komponierte diese – ungewöhnlich für den Habsburger Kulturkreis – auf eigene Textbücher in deutscher Sprache. In der Karwoche gelangten sie halbszenisch in der Schlosskirche Esterházy zur Aufführung.
Vashegyi hatte vor zwei Jahren beim Label Accent in seiner Aufnahme von Werners „Der gute Hirt“ Solostimmen, Chor und Orchester in einer sehr kantablen bis üppigen Spielpassform zusammengebracht. Basierend auf langfristigen Erfahrungen mit Werken der Brüder Haydn verbanden die Interpreten Erdung und Eleganz. Zur Konfrontation des vergnügungssüchtigen Lämmchens (Ágnes Kóvacs) mit dem Sittenstrenge in sympathischen Wohlklang verpackenden Christian Immler als Hirt hatte Vashegyi auf der CD auch plakative Effekte gesetzt. Werners Musik besticht durch klare Melodik, Ausdruckskraft und dramaturgisches Geschick in den deklamatorischen Setzungen. Sogar wer von der Beziehung Werners zu Joseph Haydn nichts weiß, würde sie mit Bezug auf Haydns Oratorien und Wiener Singspiele der Mozart-Zeit verorten. Werner ist mehr Löwenzahn als Veilchen und verdient mit dieser dramatisch pointierten, keineswegs rustikalen Haltung unbedingt größere Aufmerksamkeit.
Bei der Aufführung im Karmeliterkloster Budapest am 5. Oktober geriet Werners „Job“ (1748) auf der instrumentalen Seite leider zum allzu schönen Vergnügen. Mit Les Talens Lyriques und Christophe Rousset hatte man ein führendes Barock-Fachensemble eingeladen. Die Händel-, Lully- und Salieri-Experten gerieten bei Werner allerdings an ästhetische Grenzen, zumal es bei diesem weniger um Souveränität und deliziöse Verzückung als um deutliche und volkstheaternahe Prägnanz geht. Werners Musik erfordert jene rhetorisch und strukturierend anpackende Dialogfähigkeit, ohne die sogar Mozarts „Zauberflöte“-Finali matt bleiben würden. Dafür geriet die sängerische Seite in den zentralen Partien mit brillanter Verbindung von Intelligenz und Instinkt. Neben dem auch hier angemessen schön singenden Christian Immler als Gottvater pirschten sich zwei griff- und gestensichere Tenöre mit bühnenreifer Aktionslust an Werners Arien-Sandwiches heran. Jede Rezitativ-Silbe gelang expressiv, sinnlich und mit fast goethenaher Ironie. Joshua Ellicot als leidgeprüfter Job und Nicholas Scott als satanischer Widersacher brachten Rousset und dem anwesenden Vashegyi bei, dass sanfte Pietät bei Werner nur die Vorstufe zur wahren Erkenntnis ist. Grace Durham als „Jobs Weib“ und Fabien Hyon bestätigten auf hohem Niveau, dass Schöngesang und Barock-Attitüden für Werner nicht ausreichen. Den meisten Anwesenden unbewusst hatte Haydneum mit drei kongenialen Sängern das erste Duell zwischen unterschiedlicher Musikgesinnungen und Approximativen veranstaltet. Dieses verspricht für die nächsten Jahre einiges an Eroberungen, Entdeckungen, Einsichten.