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Mia Oehring. © Paul Leclaire.
Mia Oehring. © Paul Leclaire.
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Heinrich Böll aus Kindermund – „dokupoetisches Musiktheater“ von Helmut Oehring im Kölner Staatenhaus

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Frieder Reininghaus hat die Uraufführung von Helmut Oehrings neuestem Musiktheaterwerk in Köln besucht. Sein Bericht greift weit zurück in die Komponistenentwicklung seit 2001. Die Sentenz: „Wer mit der Kunst zu tun hat, braucht keinen Staat“ bekommt hier einen (un-)gewollt komischen Beigeschmack.

2001 reüssierte Helmut Oehring im Rheinland anlässlich einer Gemeinschaftsarbeit mit Iris ter Schiphorst: In der Bundeskunsthalle wurde mit Textfragmenten aus Theodor Fontanes Roman ein „musiktheatralisches Psychogramm“ zu Effi Briest präsentiert. Das war eine Huldigungsarbeit zugleich an den preußischen Chronisten und (Geschlechter-)Kriegsberichterstatter wie an die dem wirklichen Leben entstammende Heldin Effi – Elisabeth von Ardenne –, die sich nicht in einer „standesgemäßen“ Ehe einsargen lässt, ihren Aus- und Aufbruch in die Freiheit bitter büßen muss. Auch die weiteren Bühnenarbeiten von Oehring erwiesen allemal literarischen Figuren Referenz – 2002 in Aachen „BlauWaldDorf“ Hans Christian Andersens Kleiner Seejungfrau. Drei taubstumme „Gebärden-Solistinnen“, deren Einsatz vom Sujet her als Hinweis auf Kommunikationsstörungen und Sprachlosigkeit motiviert war, entwickelten sich zum besonderen Markenzeichen des Sohnes gehörloser Eltern. Sie waren auch bei der nächsten Arbeit Oehrings und des weiteren wieder mit von der Partie. Zum Beispiel 2004 bei der wiederum in Aachen anberaumten Uraufführung von „Wozzeck kehrt zurück“, deren Partitur sich unter anderem auf Briefe von Georg Büchner stützte und einem nach Modellen der wirklichen Kriminalgeschichte leidenden und handelnden tragischen Anti-Helden Referenz erwies.

Helmut Oehring ist dem Referenz-Modell ebenso treu geblieben wie dem Einsatz von „Gebärden-Solisten“. Bei „Unsichtbar Land“, einer Hommage à Shakespeare und dessen „Sturm“ (Basel 2006) war es einer, dessen rudimentäre akustische Bemühung den Arielgeist ebenso plausibel machten wie die Seelenzustände vor dem Tod durch Erfrieren, der Sir Ernest Shackleton 1914 beim Versuch, die Antarktis zu überqueren, aus dem Polarforscherleben riss.

Freilich erwies sich nun die Kombination von Erinnerung an Prominente früherer Epochen mit einer zunehmend zitatgestützten Musik und der Gebärden-Solistik zunehmend als Masche des Berliner Komponisten. So willkürlich wie offensichtlich auf Jubiläums-Bonus an einem Ort spekulierend, an dem „der größte Sohn der Stadt“ gefeiert wird, erschien die Verknüpfung von Kurt Weills Mahagonny-Songspiel und Text-Partikeln Heinrich Heines, die die Dramaturgin und Regisseurin Stefanie Wördemann arrangiert hatte („Die Wunde Heine“). Eine teilweise widerborstige Theatermusik, in die auch durch Rio-Reiser-„Songfenster“ schärferes Licht kam, traf 2010 in Dessau als „Antwortmusik“ des Nachgeborenen auf den wohlgefälligen Weill-Sound.

Den Kurs derartiger Gedenk-Kreationen verschärfte Oehring mit sinkendem musikalischem Eigenanteil 2013 mit „SehnSuchtMEER“ in Düsseldorf und Anfang 2017 in Wuppertal mit „AscheMOND oder The Fairy Queen“ in Wuppertal (da war, nach dem Vorbild Karlheinz-Stockhausens, eine „Teiluraufführung“ in Berlin vorangegangenen). Im Fall der Meeressehnsucht ließ der Partitur-Monteur Oehring im Wagner-Jubiläums-Jahr in Düsseldorf weite Passagen der Romantischen Heine-Oper „Der fliegende Holländer“ nahezu unangetastet. Bei der Weiterverarbeitung der englischen Semi-Opera zu Shakespeares Feenkönigin ging Henry Purcells Musik über die Wupper.

Beredtes Opus

Oehrings neueste Arbeit kam im Staatenhaus heraus, dem dauerhaften Ausweichquartier der Kölner Oper: „Kunst muss (zu weit gehen) oder Der Engel schwieg“. Das „dokupoetische Instrumentaltheater“ wird von 16 Instrumental- und Vokal-SolistInnen getragen – leicht erhöht hinter der Spielfläche sitzend Streichquintett, sieben Bläser, Keybords und Flügel, Schlagzeug sowie E-Gitarre – und alle auch als Sänger/Sprecher und Darsteller agierend. Ihnen zur Seite gesetzt wurden drei (neuerlich mit Gesten der „Gebärdensprache“ aufwartende) Sängerinnen sowie, sehr beweglich eingesetzt, neun Kinder bzw. Jugendliche. Als Supplement kamen vorproduzierte Einspielungen und Live-Elektronik dazu. Die mannigfaltigen musikalisch-szenischen Ereignisse stützten sich auf eine (wiederum von Wördemann vorgenommene) Kompilation von Texten des Kölner Schriftstellers Heinrich Böll. Oehrings beredtes Opus erschien rechtzeitig zu dessen 100. Geburtstag, der am 17. Dezember auf der Agenda der Jubiläums-Kultur stand: Tagebuch- und Brief-Segmente aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs, Ausschnitte aus Bölls Rede zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses in Wuppertal 1966 alternierten mit Gedichten wie das dem Enkel Samay gewidmete (1985) oder „Engel“ (1965). Die „Engel“-Zeilen des rheinisch-religiösen Schriftstellers beziehen sich sowohl auf ein berühmtes Bild von Paul Klee wie auf dessen Kommentierung durch Walter Benjamin. Beides hinterließ vielfältige Spuren in der Geistes- und Musikgeschichte. Ein Böll-Sohn und Samay wurden als Sprecher in die hochgradig assoziationsreiche Produktion eingebunden.

Sinnstiftend legen sich die Mitglieder des Streichquartetts gelegentlich auf den kalten Boden und spielen weiter – in ungesunden, jedenfalls keineswegs spielerfreundlichen Stellungen. Wohl, um einst extrem gemünzte Bekundungen des Dichters zu unterstreichen. Zum Beispiel die Frage aus Ludwig Erhardts „Pinscher“-Ära, wie weit die der Kunst „gelassene Freiheitsleine“ reiche. Oder die apodiktische Feststellung, Kunst sei „die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde“ und dass man sie nicht „zu Freiheiten zerstückeln kann, die die Freiheit konsumfähig machen“. Unfreiwillig komisch wirkt im Kontext einer vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes, der Kunststiftung NRW und der Stadt Köln dreifach geförderten Produktion das wiederholte Diktum, „wer mit der Kunst zu tun hat, braucht keinen Staat“ – und das im Staatenhaus.

Heinrich Böll

Heinrich Böll war jedenfalls kein grundsätzlicher Kritiker des Systems der alten Bundesrepublik, trotz gelegentlicher Bedenken hinsichtlich der universellen Segnungen von freier Marktwirtschaft. Trotz des Protests gegen die Durchsetzung der Atom- oder Nachrüstungspolitik oder des von mancherlei Kollateralschäden begleiteten staatlichen Kampfs gegen die Rote-Armee-Fraktion. Den koordinierte seit den späten 70er Jahren der im Publikum anwesende Rechtsanwalt Gerhard R. Baum in seiner Zeit als Bundesinnenminister. Die in Erinnerung gebrachten Freiheits-Sentenzen sind Aroma in einer Text-Melange, in der die Sorgen des Soldaten Böll um Leib, Leben und die Zukunft der Familie schwerer wiegen – erst recht das Gewahrwerden der beim Russland-Feldzug sich einstellenden Verrohung, das Hadern mit Gott und das Erschrecken über einen in den Dreck gefallenen Engel. Und fast beglückend erscheint in der Mitte des „Kunst muss“-Abends eine Einlage von Trompeter und Kornettistin, die mit einer Art Bicinium einen säuberlichen Paarungsakt andeuten. Dergleichen ist ja irgendwie auch unabdingbar fürs Individuum wie für den Staat.

Der Kinderschar, rekrutiert aus den Familien der Mitwirkenden, kommt im szenischen Arrangement eine Schlüsselstellung zu. Die Jungen und Mädchen spielen und tummeln sich munter, mühen sich auch mit dem Aufsagen von Text-Fragmenten. Mia und Joscha Oehring sind die Kinder-Solisten. Der familiäre Zuschnitt der dokupoetischen Kreation erinnert an die Praxis des Familienunternehmens Stockhausen, die in Köln noch in bester Erinnerung ist, und entwickelt immer wieder Züge des Anrührenden: Irgendwie können alle mitmachen in einer vom Patriarchen zugewiesenen Funktion und werden früh in die Usancen des „Neue-Musik-Betriebs“ eingeübt. Und wenn der Nachwuchs einiges Talent aufweist wie z.B. Mia, dann möchte man nicht über neofeudale Theaterverhältnisse mäkeln.

Nicht nur in Hinsicht der Kinder- und Jugendarbeit darf „Kunst muss“ also als irgendwie pädagogisch wertvoll gelten. Dass da irgendetwas „zu weit gehen“ will, lässt sich beim besten Willen nicht behaupten. Auch die Erinnerungen an Bölls Überlebenswillen als Wehrmachtsangehörigem erweckt tiefes Mitempfinden. Und manchen Bekundungen von Freiheitswillen in der Nachkriegszeit möchte man instinktiv weitgehend zustimmen. So ‚funktioniert’ das aus Häppchen gefügte Konstrukt also einigermaßen. Dabei mutet die Machart an, als wäre die Hommage à Böll kurz vorm Ende von Radio DDR für eine Einreichung des experimentalen Nachtstudios beim „Prix Italia“ konzipiert worden.

Stilles Örtchen

Historische Musik war, und nicht nur im Hintergrund des Sound-Tracks, immer wieder deutlich vernehmbar – von Bach und überhaupt Wohlklang des frühen 18. Jahrhunderts über Beethovens op. 132 bis zur ebenso wenig zwingend aufgebotenen, vom Cellisten der Spur nach gesungenen „Zuhälter-Ballade“ aus der „Dreigroschenoper“. Trotz der mannigfachen Zitate schien beim ersten Hören der Eigenanteil des Oehringschen Komponierens diesmal freilich größer als zuletzt bei der dreist ausbeuterischen Wagner-Adaption „SehnSuchtMEER“ oder der pflegeleichten Purcell-Fortschreibung „AscheMOND“. Die genauen Anteile müssten anhand der Partitur überprüft werden. Dies war freilich unmöglich. Die Bitte, Einblick in die von den öffentlichen Händen bezahlten Noten nehmen zu dürfen, wurde von der Administration der Intendantin Dr. Birgit Meyer abschlägig beschieden mit der Begründung, „dass die Entscheidung, die Partitur vorab zur Verfügung zu stellen, dem Komponisten überlassen wurde, der dies abgelehnt hat“. Naja, wenn Kunst denn derart ihr stilles Örtchen nicht lüftet, dann muss sie eben.

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