Die Wiederentdeckung von Heinrich von Herzogenbergs Kirchenoratorium „Erntefeier“ op. 104 glich einem Abenteuer. Nach der Uraufführung zum 15. Deutschen Evangelischen Kirchengesangsvereinstag am 10. Juli 1898 in Straßburg und wenigen Folgekonzerten war das gesamte Notenmaterial verschollen und tauchte erst nach dem Mauerfall in den Beständen des Leipziger Peters Musikverlags wieder auf. Eine neue Edition erschien im Carus Verlag und wurde für das einmalige Erlanger Konzert verwendet. Lange Ovationen gab es bei dem Konzert des Akademischen Chors der Friedrich-Alexander-Universität und der Vogtland Philharmonie Greiz Reichenbach nach dem Ende und schon zu Beginn, als Kiek vor dem Publikum Herzogenbergs 361 Seiten starke Partitur-Reinschrift in die Höhe hob.
Heinrich von Herzogenbergs „Erntefeier“ in Erlangen unter Konrad Kiek: Eine spätromantische Oratorien-Entdeckung
Der in Graz geborene und in Wiesbaden verstorbene Komponist und Lehrer Heinrich von Herzogenberg (1833 bis 1900) ist heute vor allem als Mitgründer des Leipziger Bach-Vereins und Propagandist von Johann Sebastian Bachs Kantaten-Schaffen in Erinnerung, das bei Herzogenberg auch Einflüsse auf dessen eigene Kompositionen zeigte. Herzogenbergs Frau Elisabeth setzte sich in beider Leipziger Jahren intensiv für Johannes Brahms sowie für Herzogenbergs Schülerin Ethel Smyth ein. Wer sich seit Jahren in der Gegenwart wiederum für die Verbreitung von Herzogenbergs kompositorischem Vermächtnis engagiert, ist der Erlanger Universitätsmusikdirektor Konrad Kiek. Am Samstagabend erfüllte er sich einen lange gehegten Wunsch. Mit dem seit Januar 2023 dafür probenden Akademischen Chor der Friedrich-Alexander-Universität und dem eigens verpflichteten Vogtland Orchester Greiz-Reichenbach brachte Kiek in der Neustädter Kirche Herzogensbergs zweistündiges Oratorium „Erntefeier“ op. 104 zur mit Beifall überschütteten Aufführung. Der Friedrich-Spitta-Experte hatte das imponierende Opus bereits 2000 in Bielefeld dirigiert.
Selbst wenn Herzogenbergs Opus in seiner Verbindung aus archaisierenden Satztechniken und chromatischen Seitenwegen noch tief im 19. Jahrhundert steckt, ist das umfangreichste Werk eines überwiegend für die evangelische Kirche komponierenden Katholiken ein großer und eindrucksvoller Wurf. Vollkommen unverständlich muss bleiben, dass der Leipziger Gewandhauschor in seiner Reihe mit Aufführungen nicht-liturgischer Handlungsoratorien des 19. Jahrhunderts „Erntefeier“ bisher unberücksichtigt ließ. Der Musikwissenschaftler Friedrich Spitta hatte diesem Herzogenberg als Freundschaftsdienst einen dreiteiligen Text zum Erntedankfest verfasst. Spitta schrieb neben der Arbeit am Text: „Bei längerer Beschäftigung mit dem (Erntedank-)Stoffe ergab sich mir, dass ihm eine das ganze Leben umspannende Bedeutung gegeben werden könne: Lebensfreude und Arbeit, Not und Sorge des Lebens, überwunden durch den Blick auf die in Christus gebotenen idealen Güter, der Ertrag des Lebens an dessen Ende und der Blick in die zukünftige Vollendung.“
Im ersten Teil prallt der Überschwang junger Menschen auf ein abgeklärtes und zu einem maßvollen Leben aufrufenden alten Paar (die Altistin Kathrin Hildebrandt und der Bassist Markus Simon). Den zweiten Teil mit Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“ nennt Kiek eines der gewichtigsten Kirchenmusik-Werke über das Thema der sozialen Verantwortung in der Gemeinschaft. Der dritte Teil gibt einen Ausblick auf das Leben nach dem Tode und rückt damit die Ernte auf die metaphorische Ebene eines spirituell betrachteten Lebenskreises. Herzogenberg dachte sich „Erntefeier“ als Mitsing-Oratorium für die Gemeinde wie seine ersten Kirchenoratorien „Die Geburt Christi“ und „Die Passion“.
Auf den Beginn mit der Choral-Intonation „Nun danket alle Gott“ folgen bewegte Fugati, die ihre Herkunft aus dem ersten Vorspiel zu den „Meistersingern von Nürnberg“ nicht verleugnen. Neben bachartig strengen Versen für den Sopran (Cornelia Götz) gibt es immer wieder an Wagners „Walküre“ und „Lohengrin“ denken lassende Reminiszenzen. Ein Choral gegen Ende des zweiten Teils erinnert sogar in seiner harmonischen Lieblichkeit an Gabriel Fauré und Charles Gounod. Den spannendsten und umfangreichsten Part ist die kurzfristig von Martin Platz (Oper Nürnberg) übernommene Tenor- und Christus-Partie. Diese beinhaltet berückend schöne Arioso-Soli, könnte eine Lieblingspartie für lyrische Stimmen werden. Insgesamt bietet „Erntefeier“ eine von Interpreten gut zu meisternde, mitreißende und kurzweilige Opulenz. Die auch von dem tschechischen Organisten Jan Dolezel dramatisch befeuerte Erlanger Wiederaufführung in Anwesenheit des Geschäftsführers der Schweizer Herzogenberg-Gesellschaft begeisterte. Es wird Zeit für die CD-Weltersteinspielung.
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