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Jon Rose in Nickelsdorf. Foto: Karl Wendelin
Jon Rose in Nickelsdorf. Foto: Karl Wendelin
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Heißer Geist der Utopie bei der 36. Ausgabe der „Konfrontationen“ in Nickelsdorf

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Der Kontrast hätte nicht größer sein können: Während wenige hundert Meter weiter im benachbarten Ungarn wieder Grenzzäune errichtet werden, machten es sich die 36. Konfrontationen im burgenländischen Nickelsdorf wie gewohnt zur Aufgabe, nicht nur über musikalische Grenzen zu springen oder sie einzureißen. Nein, sogar an die Solidarität der Festivalgäste wurde appelliert: „No borders, no nations, no seat reservations“, stand auf einem Plakat, das sich nicht nur an die ungarischen Nachbarn richtete, sondern auch die Konzertbesucher ermahnte, nicht schon am frühen Morgen einen Teil ihrer Energie dafür zu verbrauchen, die besten Sitzplätze mit Handtüchern zu reservieren: Welch ein Antagonismus bei einem Festival, das sich dem Geist der Utopie verpflichtet fühlt, dessen Gäste diesem Geist allerdings nicht immer folgen wollen.

Die Musik zumindest blieb von derartigen Störfeuern verschont. Nicht weniger als 24 Konzerte standen auf dem Programm. Das Wetter war noch heißer als in den letzten Jahren und auch die Jazzgalerie war gefüllt, wie lange nicht mehr – schon am Donnerstag wurden nicht nur die reservierten Plätze knapp. Der Trend sollte bis zum späten Sonntagabend, bis zum Auftritt des legendären Globe Unity Orchestra anhalten.

Welche Gruppe hätte besser zum Abschluss des viertägigen Festivals gepasst als jene Großformation, die den Internationalismus im Namen trägt und die vor 49 Jahren mit ihrem radikalen Ansatz der energiegeladenen Kollektivimprovisation das traditionsreiche Berliner Jazzfest erschütterte. Globe Unity verkörpert auch heute noch den alten Geist des europäischen Freejazz und die wellenartigen Kollektivimprovisationen versprühen immer noch eine einzigartige Energie, der man sich kaum entziehen kann. Was vor 49 Jahren allerdings höchst revolutionär klang und die Jazzgemeinde verstörte, gehört mittlerweile zum Standard und hat Einzug in den Kanon der (Free-)Jazzgeschichte gehalten.

Globe Unity

Von den Musikern, die 1966 in Berlin und ein Jahr später in Donaueschingen auf der Bühne standen, waren in Nickelsdorf zwar nur noch Trompeter Manfred Schoof, Saxonfonist Gerd Dudek sowie Pianist und Bandleader Alexander von Schlippenbach dabei, als Solisten ragten mit dem Posaunisten Christof Thewes und dem Saxofonisten Frederik Ljungquist zwei Protagonisten der jüngeren Generation aus dem elfköpfigen Ensemble heraus.

Dem Globe Unity Orchstra am stärksten näherte sich das Trio „All Change“ mit Eddie Prévost (Schlagzeug), Tom Chant (Saxofon) und John Edwards (Kontrabass). Die Gruppe hatte mehr zu bieten als die übliche Dosis freier Improvisation. Die dem Hardbop entliehenen Themen wurden nur kurz angerissen und schnell aufgelöst, erst gegen Ende des Sets ging den Musikern etwas die Puste aus – bei Temperaturen von bis zu 38 Grad kein Wunder.

Streichermusik

Ansonsten waren es andere Formate und Stilmittel, die das Festival prägten: Neben der Live-Elektronik gab es in diesem Jahr besonders viele Besetzungen, die aus Streichern bestanden oder durch diese erweitert wurden. Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterließ das Trio Harald Kimmig (Violine), Daniel Studer (Kontrabass) und Alfred Zimmerlin (Cello), das um den Saxofonisten John Butcher ergänzt worden war. Die Gruppe lieferte einen wilden, teilweise bedrohlichen Auftritt ab. Die Musiker verließen mit ihren Instrumenten dabei häufig die klassischen Aufgabenbereiche. Cello und Violine dienten immer wieder als Rhythmusgruppe, während sich der Kontrabass als Soloinstrument etablierte. Auch die Spielweise der Instrumente wurde erweitert. Die Saiten wurden gestrichen, gezogen, geschlagen und zerkratzt, das gesamte Instrument wurde – vom Hals bis zu den Füßen – als Klangkörper genutzt. John Butcher erwies sich als perfekte Ergänzung für das Trio. Als Meister der Zirkularatmung und des Überblasens entlockt er seinen Holzblasinstrumenten Töne, die den Zuhörer vor die Frage stellen: Welches der Instrumente ist jetzt für den Klang verantwortlich?

Die Anlehnung an kammermusikalische Darbietungen war hier durchaus gewollt und zeigt noch einmal die unterschiedlichen Facetten und vielfältigen Potentiale, die sich in der freien Improvisation oftmals allzu sehr verstecken. Dies wurde auch beim Konzert des elektro-akustischen Ensemble mit Phil Wachsmann (Violine, Live-Elektronik), Nate Wooley (Trompete), Floros Floridis (Reeds), Sten Sandell (Piano) und Paul Lytton (Schlagzeug, Percussion) deutlich. Die Gruppe zeigte, dass Improvisation nicht immer von permanenten Richtungsänderungen und stetig zum Teil zwanghaft neuen Ideen geprägt sein muss, sondern sich auch sehr behutsam, beinahe im Zeitlupentempo entwickeln kann, ohne die Spannung zu verlieren.    

Musikalische Gewitter

Für einen weiteren Höhepunkt sorgte das Trio Jon Rose (Violine, Live-Elektronik), Bob Ostertag (Live-Elektronik, Samples) und Gerry Hemingway (Schlagzeug). Ostertag hatte sich auf der gegenüberliegenden Obstwiese mit einer halbstündigen Yoga-Übung auf das Konzert vorbereitet. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Auf der Bühne entlud sich vor allem im ersten Teil des Sets ein musikalisches Gewitter. Der Donner von Hemingways Schlagzeug wurde von Ostertags Samples gnadenlos verstärkt. Dazu gesellte sich das ununterbrochene Staccato von Violinist Jon Rose. Ein heftiger Auftritt, der auch das Publikum zu Beifallsstürmen animierte.

Das Sudo Quartett mit Joëlle Léandre (Kontrabass), Carlos Zingaro (Violine), Sebi Tramontana (Posaune) und Paul Lovens (Schlagzeug) verband in seinem Spiel Einflüsse osteuropäischer Folklore mit freier Improvisation, komplexe Melodien wurden mit einem Augenzwinkern dekonstruiert. Am Ende trafen sich die Musiker zu einem minimalistischen Marsch, der von Lovens dezent vorangetrieben wurde und den die übrigen drei Musiker zurückhaltend begleiteten, ehe sie am Ende, von der Hitze gezeichnet, gleichzeitig ausstiegen, die Bögen und Stöcke auf den Boden schmissen und sich ein entspannt lachend verbeugten: Es war vollbracht.

Paul Lovens gehörte mit drei Auftritten zu den Schwerstarbeitern auf dem Festival. Mit DJ Illvibe lieferte er am Sonntagabend ein sehr kurzes und kurzweiliges Set ab. Es war das Aufeinandertreffen zweier Musiker, die aus unterschiedlichen Generationen stammen und sich in verschiedenen Szenen bewegen: Hier der Schlagzeuger, der seit mehr als 40 Jahren die frei improvisierende Szene entscheidend prägt, dort der DJ als Archivar der Musik, der die alten Aufnahmen nicht nur retrospektiv abspielt, sondern in die Jetztzeit überträgt. Beide Musiker hörten konzentriert einander zu und spielten intuitiv miteinander als hätten sie nie etwas anderes getan. Eine perfekte Symbiose. Dass Vincent von Schlippenbach aka DJ Illvibe der Sohn Alexander von Schlippenbachs ist – seit 45 Jahren einer der wichtigsten Partner von Lovens – gab der Sache noch eine besondere Note und schlug den Bogen zur globalen Gemeinschaft im Global Village Nickelsdorf.

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