War die vorangegangene Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin, die in eine Weltraumstation mündende „Fledermaus“, zumindest in Fragen des Timings hoffnungslos verloren, so entschädigt die jüngste Neuinszenierung: Rossinis „Il viaggio a Reims“ schafft die Punktlandung, das Feuerwerk an Spielfreude und Sangeskunst entfachte beim Premierenpublikum einhellige Begeisterungsstürme.
Nur drei weitere, öffentliche Aufführungen folgten der in Anwesenheit des Königs Karl X. geschlossenen Uraufführung von Rossinis „Il viaggio a Reims“ im Jahre 1825 im Théâtre-Italien in Paris. Aber nachdem die Oper durch Claudio Abbado im Jahre 1984 wiederbelebt worden war, wuchs in den letzten Jahren die Aufführungsziffer enorm an. So erfolgte beispielsweise eine internationale Koproduktion von Kiel, Lübeck und der Arena di Verona, und vor genau einem Jahr gab es in Berlin eine eigenwillige szenische Produktion an der UdK zu bestaunen.
Im Libretto von Giuseppe Luigi Ballocco macht eine europäisch bunt gewürfelte Gesellschaft von Festgästen auf der Reise zu den Krönungsfeierlichkeiten Karls X. von Frankreich Station in einem Badehotel in Plombières.
Spielte in der Inszenierung an der UdK der Topos der Reise noch eine entscheidende Rolle, so verlegt Jan Bosse, der Regisseur der Neuinszenierung an der Deutschen Oper, die Handlung vom Badehotel in ein Klinik-Ambiente. Stéphane Laimè hat dafür einen von den Wänden bis zum Plafond verspiegelten Raum geschaffen, der die Akteure multipliziert, was später durch Kamera-Liveprojektion noch bis ins Unendliche gesteigert wird (Video: Meika Dresenkamp).
Nach dem Heben des Eisernen Vorhangs glaubt der Betrachter einen besonders spielfreudigen Chor zu erleben, aber in den doppelten Krankenhausbett-Fluchten agieren ausschließlich die 14 hochkarätigen Solist_innen und einige wenige Komparsen.
Bei der M.A.S.H.-Situation dieses Sanatoriums der Liebe mischen sich, im wilden Mix der Affekte Slapstick und erotische Drastik. Unter der Sanatoriumskleidung der Patienten werden blaue Unisex-Shorts mit dem europäischen Sternen-Kreis-Signet sichtbar (Kostüme: Kathrin Plath).
Die Sängerdarsteller_innen dieses Abends genießen es sichtlich, in dieser Inszenierung ein Seitenstück zum „Flug über das Kuckucksnest“ verkörpern zu dürfen. Ziemlich schnell wird klar, dass die vorgebliche Reise nach Reims und die dann alternativ geplante Reise nach Paris nur Behauptungen des Klinkpersonals darstellen um die irren Inhaftierten auf andere Gedanken zu bringen.
Aus der Besitzerin des Badehotels Madama Cortese wird die Oberschwester (Hulkar Sabirova), die gerne mit dem hier nur vorgeblich als Heiler agierenden Don Prudenzio (Sam Roberts-Smith) ins Bett steigt. Im Kostüm wie eine indische Gottheit und im Spiel realiter versiebenfacht, agiert die Improvisationskünstlerin Corinna. Häufig wird sie nur von den virtuosen Klängen einer Harfenistin (Virgine Gout-Zschäbitz) – hinter der Szene – begleitet. Auf der Szene hingegen, trefflich im Spiel der Querflöte, wie im Spiel als Liebhaberin, ist Anna Garzuly-Wahlgren zu erleben. Am Ende des ersten Teils dienen die Matratzen sämtlicher Klinikbetten als ein großes Liebeslager für eine Reise der Sinne. Nach der Pause sind die Bettgestelle hochkant an den Rand der Spielfläche umgelagert.
Mit einem mobilen Spot evoziert Trombonok (Philipp Jekal) die Wiedervereinigung des drastisch extravagant zur sexuellen Vereinigung als Versöhnungsakt drängenden Paares Libenskof (David Portillo) und Melibea (Vasilisa Berzhanskaya): ihr Bett schwebt auf einer Tischversenkung nach oben, welche dann die Tafel für die anschließende Feier bildet. Dabei soll Jeder im musikalischen Stil seiner Heimat einen Toast auf den Souverän ausbringen, von der Haydnschen Kaiser-Hymne des deutschen Musikfanatikers Tombonok bis zum ausufernden Lobgesang auf Karl X. durch die italienische Improvisationskünstlerin Corinna. Für den Wettgesangs-Beitrag zum Fest trägt jeder – im Spiel per Los ermittelte – Teilnehmer eine verspiegelte Tafel mit zumeist grotesken Leuchtsymbolen.
An realer Stimmgewalt siegen in der Premiere der Neuinszenierung Mikhail Kiria als britischer Lord Sidney und Irena Tsallagova als Corinna, gefolgt von Vasilisa Berzhanskaya als Melibea und Gideon Poppe als Belfiore. Doch da nach dem Hollywood-Gesetz die Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied, sollen auch die nicht weniger eindrucksstarken weiteren Solist_innen dieser Aufführung benannt werden: Siobhan Stagg als Contessa di Folleville, Davide Luciano als Don Profondo, Dong-Hwan Lee als Don Alvaro, Juan de Dios Mateos als Zefirino, wie auch Alexandra Ionis (Maddalena), Meechot Marrero (Modestinas), Davia Bouley (Delia) und Byung Gil Kim (Antonio).
Bereits vor dem Einsatz des durch den jungen Dirigenten Giacomo Sagripanti hoch motivierten, mit Bravour und Witz aufspielenden Orchesters der Deutschen Oper Berlin gibt es etwas zu erleben: der sinfonische Wettstreit von Handy-Klingeltönen (als musikalisch geformter, textloser Hinweis, die Mobilfunkgeräte während der Oper auszuschalten) schlägt den Bogen zum finalen Sängerwettstreit in der ersten Oper mit integrierter Europa-Idee.
- Weitere Aufführungen: 22., 24., 30. Juni und 5. Juli 2018.