„Die Kunst sieht, was andere übersehen. Das heißt nicht, daß sie alles sieht, ganz im Gegenteil. Sie sieht ja nur das, was andere übersehen, und nicht das, was sie dabei selbst übersieht.“ So umreißt der Soziologe Dirk Baecker in seinem Buch „Wozu Kultur?“ (2000) kurz und bündig den Charakter von Kunst. Deren spezifischer Blick auf Welt, Natur, Mensch und Gesellschaft ist anders als die zweckgeleiteten Sichtweisen von Alltag, Wissenschaft, Politik, Berichterstattung und daher immer alternativ, erhellend, aufklärend, vielleicht sogar diagnostisch. Das gleiche gilt für Musik und ihr individuelles Lauschen auf das, was andere überhören. Doch Kunst und Musik sind nicht generell hellsichtig und hellhörig. Auch sie haben blinde Flecken und taube Stellen. Doch wo liegen die Dunkelfelder?
Der Mangel an künstlerischer Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis gründet in der betriebsamen Geschäftigkeit von Komponierenden, Interpretierenden, Veranstaltenden und Kommentierenden, die nicht automatisch künstlerische Qualität hervorbringt. Aufträge, Öffentlichkeit und Presseresonanz bekommen nicht selten die emsigsten Klinkenputzer, umtriebigsten Netzwerker, egomanischsten Marktschreier und lautesten Marketenderinnen in eigener Sache, die den heißesten Draht zu Ensembles, Festivals, Konzertreihen und Förderern unterhalten. Andere werden so zwangsläufig übersehen und überhört. Während Boulez, Berio, Nono, Pousseur, Schaeffer, Stockhausen und Xenakis die elektroakustische Musik lange Zeit gleichsam zu verkörpern schienen, standen andere im Schatten. Vor allem Komponistinnen elektronischer Musik hatten und haben es schwer, weil nach wie vor das alteingewurzelte Vorurteil herrscht, Frauen und Technik vertrügen sich nicht. Im Studio für elektronische Musik des WDR Köln durften während fast fünfzig Jahren nur Younghi Pagh-Paan und Unsuk Chin als einzige Komponistinnen arbeiten, freilich erst kurz vor Schließung des Studios Ende 2000. Dagegen standen die Studios in Paris und Stockholm Frauen durchaus offen.
Seit 2014 präsentiert das Berliner Festival „Heroines of Sound“ sowohl historische Pionierinnen der elektronischen Musik als auch weniger bekannte jüngere Komponistinnen und Performerinnen. Die häufig vergessene und unterschätzte Qualität und Vielfalt weiblicher Künstlerinnen soll sicht- und hörbar gemacht werden, um „neue Perspektiven für eine Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Positionen weiblicher musikalischer Praxis“ zu eröffnen. Das von Bettina Wackernagel geleitete sowie von Dorit Chrysler und Sabine Sanio als Kuratorinnen mitgestaltete Festival findet dieses Jahr vom 7. bis 9. Juli im Radialsystem statt. Das Programm bietet ein gutes Dutzend Uraufführungen. Neue Werke für Minimoog-Synthesizer oder live-elektronische Performances mit oder ohne Zusatzinstrumente stammen von Dorit Chrysler, Misha Cvijović, Annesley Black und Svetlana Maraš. Neue Kombinationen von Elektronik mit einem oder mehreren Instrumenten oder Singstimmen präsentieren Ana Maria Rodriguez, Pía Alvarado Arróspide, Claudia Sofía Alvarez, Naid Cruz, Yemit Ledesma, Isa Otoya, Laura Robles und Ale Hop. Von Juliana Hodkinson ist außerdem „Small transactions“ für das Ensemble LUX:NM zu erleben und von Mariam Gviniashvili das achtkanalige audiovisuelle Werk „Chaos and Awe“. Gerade im Dunkelfeld ist Hellhörigkeit gefragt!
Weitere Uraufführungen:
- 03.07.: Jörg Widmann, Bunte Blätter für zwei Klaviere, Anneliese Brost Musikforum, Klavier-Festival Ruhr
- 05.07.: Riccardo Castagnola, neues Werk für Ensemble New Babylon, Modernes Bremen
- 03.08.: Vladimir Rannev, neues Stück für AuditivVokal Dresden, Festival Europ. Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd
- 14.08.: Herbert Willi, DSONG für Orchester, Festspielhaus Bregenz
- 14./28./31.08.: Michael Pelzel, Michael Ranta, Sarah Nemtsov, neue Werke, Ruhrtriennale
- 28.08.: Elnaz Seyedi, neues Werk für Ensemble New Babylon, Schnürschuh Theater Bremen