Selten war ein neues Werk mit derartigem Erwartungsdruck konfrontiert. Wie immer die neue Komposition ausfallen wird, schon jetzt gleicht es einer Sensation, dass sie überhaupt zur Uraufführung gelangt. Denn in der Vergangenheit wurde das Stück bereits dreimal angekündigt und ebenso oft wieder abgesagt. Im Rahmen der Reihe musica viva im Herkulessaal der Münchner Residenz ist es nun aber endlich soweit: Am 7. Juni spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seinen acht Hornisten unter Leitung von Peter Eötvös erstmalig Helmut Lachenmanns „My Melodies – Musik für acht Hörner und Orchester“.
Sieht man vom „Marche fatale“ in Klavier- und Orchesterfassung ab, so hüllte sich Lachenmann seit „Got lost“ (2008) zehn Jahre lang in Schweigen. Dabei witterte man schon vor bald dreißig Jahren einen Vorklang auf das jetzt endlich vollendete neue Werk, als am Orchesterstück „Tableau“ (1989) eine Unverhältnismäßigkeit zwischen großer Besetzung – schon damals mit acht Hörnern – und zeitlicher Kürze diagnostiziert wurde, die den Komponisten zu einer größer dimensionierten Ausarbeitung hätte veranlassen können. Das jetzt in München präsentierte Werk entspricht hinsichtlich Besetzung und 40 Minuten Dauer zumindest äußerlich der Monumentalsymphonik von Bruckner, Mahler, Strauss.
Mit der Ankündigung veröffentlichte der Veranstalter zugleich auch ein Dutzend prominente Erwartungshaltungen: Peter Ruzicka etwa spekuliert auf „so etwas wie Durchbruchscharakter in Helmuts Œuvre“; Hans Zender vermutet, Lachenmann wolle zeigen, dass es gerade heute darauf ankomme, „jedes Körnchen des Klangs auf die Goldwaage zu legen, nichts Überflüssiges, nichts (nur) Zufälliges nichts (schon) Verbrauchtes, hinzuschreiben“. Doch was kann man bei einem Komponisten erwarten, der selber den Anspruch hat, seine Hörer in abenteuerliche Situationen und Wahrnehmungserlebnisse zu führen, die letztlich allem Erwartbaren zuwider laufen? Die Erwartung des Unerwartbaren aber treibt den Erwartungsdruck ins Unerträgliche. Allein Lachenmanns Durchhaltevermögen und Mut, sein Orchesterwerk zu vollenden und zur Uraufführung zu bringen, grenzt da schon an ein Wunder. „My Melodies“ wird sicher nicht so melodienselig ausfallen wie der „Marche fatale“. Stattdessen dürfte das Gewicht eher auf dem „My“ des englischen Titels liegen, also auf Lachenmanns Anspruch, kein musikalisches Material einfach zu benutzen, sondern sich dieses Material, und seien es Melodien, durch strukturelle Neubeleuchtung zu eigen zu machen. Immerhin machte er das auch schon in „Pression“ aus dem altbekannten Instrument „Mein Violoncello“ oder in „Gran Torso“ aus der traditionellen Gattung „Mein Streichquartett“.
Weitere fünfzehn Uraufführungen sind vom 2. bis 12. Juni ebenfalls in der bayerischen Landeshauptstadt zu erleben. Die Münchener Biennale präsentiert neue Werke von Ondrej Adámek, Saskia Bladt, Franco Bridarolli, Wilmer Chan, Kaj Duncan David, Ruedi Häusermann, Miika Hyytiäinen, Clara Ianotta, Yasutaki Inamori, Nicolas Kuhn, Lam Lai, Frederik Neyrinck, Marek Poliks, Stefan Prins, Trond Reinholdtsen, Eleftherios Veniadis sowie von Kompositionsstudierenden der Hochschule für Musik und Theater München. Unter dem Motto „Privatsache“ setzt sich dieses Festival für Neues Musiktheater heuer mit Verlust, Schutz und Neudefinition von Privatsphäre auseinander, unter anderem auch mit Stücken, die für Münchner Privatwohnungen entwickelt wurden.
Weitere Uraufführungen
01.06.: Stefan Heucke, Labyrinth der Träume, Regentenbau Bad Kissingen
03.06.: Peter Ruzicka, Benjamin, Hamburgische Staatsoper
14.06.: Beat Furrer, nero su nero, Konzerthaus Wien
17.06.: Martin Smolka, Neues Werk für Partch-Instrumente, Musikfabrik im WDR Köln
20.06.: Nicolaus A. Huber, Blanca y Verde, Akademie für Tonkunst Darmstadt
22.06.: York Höller, Kondukt zur Erinnerung an Bernd Alois Zimmermann, Heidelberg
23.06.: Isabel Mundry, Neues Werk für Kammerorchester, Musik der Zeit Köln
24.06.: Krzysztof Penderecki, Ciaconna in memoriam Giovanni Paolo II, Konzertscheune Gohrisch