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Wolfgang Rihms „Vigilia“ in der Basilika. Singer Pur sangen unter der Leitung von Jonathan Stock­hammer mit ihrem neuen Mitglied Rüdiger Ballhorn (2. v.l.), der in diesem Jahr für Klaus Wenk ins Ensemble gekommen ist. Foto: R. Kalthoff
Wolfgang Rihms „Vigilia“ in der Basilika. Singer Pur sangen unter der Leitung von Jonathan Stock­hammer mit ihrem neuen Mitglied Rüdiger Ballhorn (2. v.l.), der in diesem Jahr für Klaus Wenk ins Ensemble gekommen ist. Foto: R. Kalthoff
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Herbstliche Zwiegespräche mit Lebenden und Toten

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Die Internationalen Weingartener Tage für Neue Musik feiern ihr dreißigjähriges Bestehen mit Wolfgang Rihm
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Dreißig Jahre sind ein erstaunliches Alter für eine Konzertreihe, die abseits der großen Zentren stattfindet und nicht dauerhaft von einer potenten Ins­titution getragen wird. Doch so lange schon gibt es die Internationalen Weingartener Tage für Neue Musik.1986 erstmals durchgeführt und bis heute künstlerisch geleitet von der rührigen Rita Jans, stellt das Wochenendfestival mit Konzerten und Gesprächen stets einen Komponisten oder eine Komponistin ins Rampenlicht.

Praktisch alles, was in der Nachkriegsmusik Rang und Namen hat, ist in der Stadt unweit des Bodensees schon zu Gast gewesen, von John Cage über Karlheinz Stockhausen und Dieter Schnebel bis Sofia Gubaidulina. In der nächsten Generation geht das weiter mit Nikolaus Brass, Mark Andre, Carola Bauckholt, Uroš Rojko und vielen anderen. Die klingenden Komponistenporträts finden in den Räumen des ehemaligen Benediktinerstifts – heute die Pädagogische Hochschule – statt und finden ein aufgewecktes Publikum jeglichen Alters. Die zeitgenössische Musik lebt. Auch in der sogenannten Provinz, die im Zeitalter der digitalen Kommunikation ohnehin keine mehr ist.

In diesem Jahr nun war ein alter Bekannter wieder da, der vor genau zwanzig Jahren schon einmal porträtiert worden war: Wolfgang Rihm. Es war natürlich kein Remake. Nicht nur, weil auch neuere Stücke auf dem Programm standen, sondern weil sich bei Rihm bekanntlich nie etwas wiederholt. Die chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit seiner musikalischen Sprache erstaunt immer wieder, zumal sie nicht Ausdruck eines prinzipienlosen Herum­eierns ist, sondern weil dahinter eine unerschütterliche Festigkeit und Zentriertheit des Denkens sichtbar wird.

Das zeigte sich auch in den lebhaften Gesprächen mit Siegfried Mauser, die sich um die gespielten Werke herumrankten. Mit anschaulicher und zugleich begriffsscharfer Sprache erläuterte Rihm die gedanklichen Hintergründe der stellenweise frappierend einfachen Bagatellen, aus denen das Klavierstück 6 besteht, und machte damit ihren Charakter als niedergeschriebene Improvisation deutlich: flüchtige Eingebungen, im Vorbeiflug erhascht und mittels Notation festgehalten auf Papier. Im Moment ihrer klingenden Vergegenwärtigung beginnen sie plötzlich wieder zu leben, und bevor es der Zuhörer richtig bemerkt, haben sie mit ihrer Kargheit und Einfachheit von ihm Besitz ergriffen. Was in diesen Bagatellen von 1978/79 als Selbstgespräch eines unablässig seinen eigenen Weg suchenden Komponisten erscheint, wird zwanzig Jahre später in den fünf Klavierminiaturen „Zwiesprache“ zum Dialog. Es sind Zwiegespräche mit Verstorbenen, die ihm nahestanden und deren Konturen in der klingenden Erinnerung noch einmal geisterhaft Gestalt annehmen. Einen maximalen Kontrast zu diesen introvertierten Stücken bildete das Klavierstück 7, das der pianistische Schwerarbeiter Mauser als massiven Klangblock in den Raum stellte.

In den Gesprächen zwischen Komponist und Interpret wurde deutlich, was die extrem gegensätzlichen Werke miteinander verbindet: ein generatives Prinzip in Gestalt eines vegetativen, nur seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten verpflichteten Komponierens. Rihm verglich es mit dem unkontrollierbaren Wachstum von Pilzen. Das unterirdische Myzel-Geflecht ist das Wesentliche, der einzelne Pilz nur der transitorische Fruchtstand. Künstlerische Tätigkeit als autonomer, den Blicken verborgener Lebensprozess, der vom Prozess des realen Lebens nicht abzulösen ist.

Das Weingartener Konzertwochenende präsentierte neben der Klaviermusik auch eine gut getroffene Auswahl aus Rihms weitgefächertem Kammermusikschaffen. Der Bogen reichte vom ersten Streichquartett von 1970 über den Monolithen des neunten Quartetts und das facettenreiche Klarinettensolo „Vier Male“ bis zu den „Vier Studien zu einem Klarinettenquintett“ von 2002. Thorsten Johanns und das belgische Quatuor Danel erwiesen sich als ideale Interpreten der extrem fordernden, alle Ausdrucksdimensionen auslotenden Stücke.

Mit der Aufführung von „Vigilia“ in der mächtigen barocken Basilika hatte das Wochenendfestival begonnen. Das abendfüllende Werk besteht aus einer Folge von sieben zwischen 2001 und 2006 komponierten A-cappella-Motetten, die auf Passionstexten beruhen. Sie sind durch instrumentale Zwischenspiele getrennt, den Abschluss bildet ein vokal/instrumental gemischtes „Miserere“. Die sechsstimmigen Gesänge stehen in der Tradition der musikalischen Tenebrae-Visionen, zu deren prominentesten die vor vierhundert Jahren entstandenen Karwochenresponsorien Gesualdos zählen. Rihm vermeidet jeden Illustrationismus, das Leise dominiert, die vielen Pausen lassen der Reflexion Raum. Jeder Klang erhält durch Vokalfarbe, Klangdichte und Dissonanzgrad sein eigenes spezifisches Gewicht. Doch im entscheidenden Moment kann sich der polyphone Gesang auch zum barocken, alle Höhen und Tiefen ausmessenden Klanggemälde öffnen. Das Vokalensemble Singer Pur und das Ensemble Modern unter Jonathan Stockhammer verhalfen dem Werk zu einer exemplarischen Aufführung.

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