Ein Festival für zeitgenössische Musik nennt sich „Greatest Hits“? Der freche Titel ignoriert die Tatsache, dass die allermeisten neuen Werke schon deshalb keine Chance haben, je die Charts zu entern, weil sie nach ihrer Uraufführung in die Schublade wandern. Mehr noch, er verkörpert ein Postulat: nämlich dass es möglich sei, ein breites Publikum für eine Art Musik zu gewinnen, die vielen als staubtrocken-säuerlich gilt.
Mutige These. Die Veranstalter haben dramaturgisch keinen Aufwand gescheut, um sie zu belegen. Nachdem das Vorgängerfestival, die Hamburger Klangwerktage, 2012 seine Abschiedsvorstellung gegeben hatte, baten nun die Elbphilharmonie Konzerte und die Kulturfabrik Kampnagel für ein langes Wochenende in die Barmbeker Fabrikhallen. Das Programm reichte vom bearbeiteten Mozart bis zur Frantzius-Uraufführung, streng Analoges und viel Digitales, Einmannstücke und welche für großes Orchester. Für jeden Geschmack etwas.
Naja, für fast jeden Geschmack. Wirkliche Novizen der Neuen Musik hätte der Auftakt womöglich gleich wieder verscheucht. Mauricio Kagels „Eine Brise“ für 111, auf Kampnagel immerhin 50 bimmelnde, pfeifende, singende Radfahrer, war natürlich herrlicher Nonsense. Doch gleich anschließend erwies sich das Ensemble Mosaik sämtlicher Vorurteile gegen die Neue Musik als würdig. Für „zähmungen #2 Bogenwechsel“ von Eduardo Moguillansky hatten die Musiker ihre Instrumente präpariert; so saßen auf den Stegen der Streichinstrumente Tonköpfe, und auf die Bögen waren Tonbänder gespannt. Je nach Bogenstelle und Strichgeschwindigkeit klang es mal nach Mickey Mouse und mal wie eine Unterhaltung unter Großfischen. Eine originelle Idee, die aber ungefähr ab Minute drei ausgeschöpft war. Dass die Musiker für Minuten unterbrechen mussten, weil der Bratschistin eine Batterie fehlte, machte dem Spannungsbogen endgültig den Garaus.
Die nachfolgende Gruppe El Perro Andaluz machte den Eindruck hochphilosophischer Langeweile mit Witz, Inspiration und Klangsinnlichkeit wieder wett. Dass ascolta gen Mitternacht noch großartig Musik machte, versendete sich leider – drei selbständige Programmteile sind einfach mehr, als ein Hörer frischen Geistes aufnehmen kann. Wenig durchdacht war auch die Häufung von Performances, die die Musik beinahe an den Rand der Wahrnehmung drängte.
Wie anders der zweite Abend der Reihe „Ensemble-Gesellschaft“! Das ensemble recherche löste das Festivalmotto voll ein und brachte einen Blumenstrauß an Liebesliedern von Abrahamsen bis Zender, ganz ohne elektronische oder szenische Zutaten, aber dafür aufregend, rhetorisch und herzergreifend gespielt. So klingen Hits. Und Das Neue Ensemble und das Hamburger Ensemble Resonanz brachten es fertig, den Abend auf demselben Niveau weiterzuführen.
Hübsch die Idee, in der Reihe „Local heroes“ örtlichen Künstlern eine eigene Plattform zu geben. Dass deren Arbeiten alles andere als provinziell sind, dafür bürgen schon Namen wie Ensemble Decoder oder Burkhard Friedrich. Der Perkussionist Stefan Weinzierl dürfte es nicht oft erleben, dass ihn aus der ersten Reihe ein Kind begeistert „Hallo Stefan!“ begrüßt. Clou seines geistreichen Performance-Heimspiels: „Licht und Hiebe“ von Jacob Sello, ebenfalls Hamburger, bei dem das Fell der Pauke zu einer Art Touchscreen mutierte, dessen fortlaufende Wandlungen zugleich per Video an der Saalwand zu verfolgen waren.
Die Reihe „ePhil unplugged“ war schon der nächtlichen Uhrzeiten halber etwas für Hardcore-Fans: Um die Installation einer Wellenfeldsynthese herum gruppierten sich Konzerte mit Dinosauriern der elektronischen Musik wie Ondes Martenot und Theremin – charmant gedacht, aber mitunter durchaus zäh, was das Verhältnis zwischen Dauer und kompositorischem Gehalt betraf.
So ganz wollte der Eindruck nicht weichen, dass dies eher ein Klassentreffen der bestehenden Fangemeinde war. Ein begleitendes Seminar zur Entwicklung der Neuen Musik am Hamburger Konservatorium wurde jedenfalls im Vorfeld wieder abgesetzt – zu wenige Anmeldungen. Ob’s am Marketingbudget lag? 1.650 Besucher zählen die Veranstalter und eine Auslastung von 79 Prozent; die Säle auf Kampnagel sind nicht groß, für die Hamburger Szene der Avantgardehörer reichten sie. Die ist nämlich, gemessen am Einzugsgebiet, überschaubar.
Aber dafür aufmerksam. In den Pausen fielen allerhand fachmännische Kommentare. Kein Huster, kein Stuhlknarren störte die andächtige Stille in den Konzerten. Das machte „In iij Noct.“ von Georg Friedrich Haas, dem Composer in Residence, zu einem fast unwirklichen Erlebnis. In vollständiger Dunkelheit aufgeführt, war eine geschlagene Stunde lang nichts außer den Klängen des JACK Quartet zu hören: von feinstem Col-legno-Mäusetrippeln über betörend glissandierende Klangflächen bis hin zu einem Pfeifen, das an Raketeneinschläge erinnerte. Die vier Musiker verständigten sich von den vier Ecken des Raums aus seismographisch und schienen mit den Hörern zu einem still atmenden Riesenorganismus zu verschmelzen.
Das Konzert des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von François-Xavier Roth war Höhe- und Schlusspunkt des ganzen Wochenendes. „limited approximations“, Haas’ Konzert für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere und Orchester, wurde zu einer Offenbarung. Haas ließ ahnen, um welche Klangeindrücke uns alle das pythagoreische Komma bringt, indem er sich über genau diesen physikalischen Kompromiss hinwegsetzte: Die reinen Akkorde des Orchesters wurden vom jeweils passenden Klavier überwölbt – und die dabei entstehenden Obertongebilde schienen in ihrer Schönheit und Grenzenlosigkeit direkt in den Himmel zu führen. So kunstvoll war das gespielt, dass allen Anwesenden geradezu körperlich spürbar wurde, wie unverzichtbar dieses hoch spezialisierte Orchester ist. „Le Sacre du Printemps“ präsentierten die Musiker in einer Klarheit, die ahnen ließ, welches Fundament Strawinsky 1913 für die Musikgeschichte der kommenden hundert Jahre gelegt hat. Das war nun wirklich mal ein Hit im Wortsinne. Ansonsten hat das Festival die These vom Avantgardehit noch nicht so ganz erhärtet. Aber die Veranstalter lassen verlauten, sie seien zufrieden. Im nächsten Herbst soll’s jedenfalls in die zweite Runde gehen.