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Foto: Stadttheater Bremerhaven
Inga-Britt Andersson (Tatjana). Foto: Heiko Sandelmann
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Hinter die Kulissen der Gefühle geschaut – Tschaikowskis Eugen Onegin in Bremerhaven

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Es fängt in „Eugen Onegin“ am Stadttheater Bremerhaven alles so harmlos an: In Peter Tschaikowskis „lyrischen Szenen“ von 1877 feiert die russische Gutsherrenlandgesellschaft in Gegenwart des Popen das Erntefest, natürlich in der Sicht des Regisseurs und Ausstattungsspezialisten Andrzej Woron mit hunderten von roten Äpfeln in einem verzaubernden Birkenwald.

Eine in irgendeiner Weise bedrückende Atmosphäre, aus der das folgende hervorgeht, hatte das leider nicht. Die Kostüme sind aus dem Handlungsjahr ca. 1820 und nichts deutet auf eine gedankliche Metaebene. Im lichtdurchfluteten Birkenwald verehrt der Dichter Lenski die lebenslustige Olga, die er allerdings eher für die Projektionen seiner Dichtung nutzt. Ihre grüblerische Schwester Tatjana sitzt lieber an der Seite und liest Bücher. Als Lenski seinen neuen Freund, den großstädtischen, auch zynischen Dandy Eugen Onegin mitbringt, ist es um Tatjana geschehen: in ihrer berühmten, von vornherein illusionären Briefszene gesteht sie Onegin ihre erste Liebe, etliche zerknüllte Entwürfe werden dabei in die Luft geschmissen und regnen wieder herunter. Onegin ist dabei anwesend. So weit, so gut gespielt und hervorragend gesungen von Inga-Britt Andersson als Tatjana und Filippo Bettoschi als langhaariger Onegin. Woron hantiert auch überzeugend mit stillstehenden Bildern; so im ersten Bild im doppeldeutigen Quartett, wo zwei ganz verschiedene Musiken gegeneinander stehen oder auch das „Standbild“ Tatjana, die ohne Onegin genauso dasteht wie vorher mit ihm, das sind starke Ideen.

Auch im zweiten Akt von Alexander Puschkins Versroman – zwei Drittel des Textes sind ja wörtlich von ihm – bleibt es realistisch und psychologisch simpel, aber gut: Tobias Haaks als Lenski führt das Duell im Morgengrauen herbei, weil Onegin aus seiner Sicht etwas zu wild mit Olga (explosiv Carolin Löffler) getanzt hat. Es löst sich ein Schuss, Onegin will das eigentlich alles nicht und ergreifend kniet er bei seinem getöteten Freund. Die Birke im Hintergrund ist inzwischen umgefallen, Zeichen für die Entwurzelung. Da war nichts falsch, aber auch nichts aus dem Sessel Hebendes. Die allegorischen tänzerischen Begleitungen eines Satyrs und des Pan blieben lediglich unterhaltend.

Die Inszenierung nimmt Fahrt auf und findet für die große Polonaise am Anfang des dritten Aktes nun doch zu einer Deutung: Gejagt von Bajonetten werden Menschen ins Totenreich gestoßen, in dem man auch Lenski sieht. Und jetzt wird in vorbeiziehenden Personen die Geschichte Russlands aufgeboten: von der Ballerina über die Revolutionen, über die Diktatoren, über die einfachen Bauern, bis am Ende der Palast des Fürsten Gremin sozusagen im Putin-Russland dasteht – das heißt viele Jahre nach dem Tod des Lenski. Da arbeitet Woron den Gegensatz zwischen hohler Existenz und hoffnungsloser Innenwelt schon Schostakowitsch antizipierend heraus. In einem überdimensionalen Pelzhut sitzt die verzweifelte Tatjana da – vollkommen zur Marionette geworden. Und wirkungsvoll kommt die große Schlusszene, deren Verzicht durch Tatjana ja so unterschiedlich gedeutet werden kann: es kann Reife sein, es kann aber auch Trotz, falsche Anpassung und Angst vor den eigenen Gefühlen sein. Bei Woron ist es letzteres und zurück bleibt etwas, was präzise hinter die Kulissen dieser Gefühle schaut: Liebe ist nur als Einsamkeit möglich.

Das unterstützt die musikalische Interpretation durch Marc Nieman, der die Musik in greller Buntheit geradezu vorwärts peitscht und gleichzeitig berückende Innentöne findet. Letztendlich eine handwerklich gekonnte Aufführung, die viel Raum für eigenes Denken und eigene Gefühle lässt. Schade nur das Singen in deutscher Sprache: es ist ja eine Illusion, dass man die versteht, auch dafür braucht es Übertitel. Befremdlich der schlechte Besuch einer Premiere: warten die Bremerhavener erstmal ab, wie die Kritik ausfällt? Man könnte auf so eine Idee kommen: die, die da waren, spendeten zu Recht großen und herzlichen Beifall. Die nächsten Aufführungen: 30.4., 5., 13., 18., 22. und 29.5.

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